WIR:HIER

Kapitel 10

Szusza hatte nur ihre Bongotrommel und eine Zahnbürste mitgenommen

Das Ferienhaus der Familie von Felix war eine ziemliche Bruchbude, aber es gehörten ein großes Grundstück und ein Zugang zum See dazu. Als er im vergangenen Jahr seinen 15. Geburtstag hier feierte, waren die Eltern noch dabei, inzwischen hatten sie genug Vertrauen, ihnen das Haus einen Tag und eine Nacht lang ohne Aufsicht zur Verfügung zu stellen. Fast ohne Aufsicht. Fabian, der drei Jahre ältere Bruder von Felix, feierte mit. Er war für die Eltern, die sagten „Wenn kein Erwachsener da ist, darfst du nicht über Nacht wegbleiben“, das Alibi. Erwachsen war er schließlich, zumindest dem Ausweis nach.

Im Laufe des Nachmittags trudelten immer mehr Leute in Teupitz ein. Einige waren mit dem Auto gekommen, die anderen teilten sich jeweils ein Wochenendticket der Bahn. Fabian hatte sich bereit erklärt, alle mit dem Auto vom Bahnhof in Golm abzuholen und am nächsten Nachmittag zurückzubringen.

„Das ist mein Geschenk zu deinem 16. Geburtstag, kleiner Bruder. Ich mach euch den ganzen Tag den Fahrer.“ Ein gutes Geschenk. Fabian trank keinen Alkohol, er rauchte zwar Joints, aber nicht so viel, als dass er leichtsinnig geworden wäre oder nicht mehr hätte fahren können. Die Eltern spendierten die Getränke inklusive zwei Kästen Bier, ein paar Salate, Brot und Grillwürste zum Fest. Felix musste versprechen, dass es keinen Schnaps auf der Party geben würde.

Sie bauten ihre Zelte im Garten auf, eine Gruppe fuhr zum Einkaufen – Chips, Gummibärchen, Grillkohle, Eis, Wunderkerzen, die sie um Mitternacht anzünden wollten, und zwei Flaschen Wodka.

Jeder, der wollte, konnte sich mit 5 Euro am Gemeinschaftsgeschenk für Felix beteiligen. Zwei Mädchen, Mara und Julia, waren auf die Idee gekommen und kümmerten sich um die Umsetzung. Mara hatte eine Excel-Tabelle dafür angelegt. Es war nicht ihre erste Liste, und es war nicht das erste Mal, dass die beiden Partys organisierten. Sie waren auch die, die jetzt schon anfingen, sich über die Gestaltung der Abi-Party Gedanken zu machen.

„Das hätte auch auf einen Zettel gepasst. Name und ein Häkchen, dafür braucht man doch keine Tabelle. Deine ist dreifarbig! Du machst es vielleicht kompliziert.“

„Seh ich anders. Das ist sehr praktisch. Und du, Szusza – und Cem kann auch zuhören – ihr habt noch immer nicht gezahlt.“ Szusza rollte mit den Augen. „So wie du alle terrorisierst, wirst du bestimmt mal eine prima Wedding-Planerin. Aber sag mal, braucht man dafür überhaupt Abitur?“ Lachend sprang sie eine Armlänge von Mara weg, um nicht im nächsten Augenblick von deren Klemmbrett getroffen zu werden. Cem zog einen Zehner aus der Tasche. „Stimmt so.“

Szusza hatte nur ihre Bongotrommel und eine Zahnbürste mitgenommen. „Wenn überhaupt, dann penn heute Nacht draußen. Ich bin ja nicht aus Zucker, und unterm Sternenhimmel schlafen ist viel geiler, als auf so ’ne blöde Zeltplane zu starren.“

Nachdem sie zum dritten oder vierten Mal auf ihr veritables Veilchen am linken Auge angesprochen wurde, stieg sie seufzend auf einen Baumstumpf und rief: „So, alle mal herhören: Ich habe ein blaues Auge. Hat es jemand noch nicht gesehen? Bitte sehr.“ Sie drehte sich einmal im Kreis und zeigte mit ausladender Geste auf ihr Gesicht. „Hier ist es. Und nein! Meine Eltern schlagen mich nicht. Ihr Penner! Ich mache Sport. MMA. Mixed Martial Arts. Ist ein Vollkontaktkampfsport – Kickboxen, Karate, Ringen und noch ein paar andere Gemeinheiten. Und das bedeutet: Man haut sich auch mal ein bisschen härter. Ich kann es jedem gern zeigen.“

Das musste sie nicht, jedenfalls nicht ernsthaft. Am späteren Nachmittag zog sie sich mit drei Jungs auf ein Wiesenstück zurück und fachsimpelte über die Unterschiede von MMA und Kung-Fu. Die Jungs und sie sprangen sich mit angewinkelten Knien an, wälzten sich in Klammergriffen über den Rasen und tauschten verschiedene Kampfsporttricks aus.

Letzte Zeltaufbauten beschäftigten die einen, andere liefen zum See runter, badeten, spielten Gitarre, alberten herum, tranken die ersten Wodka-Redbulls und suchten Holz für das Lagerfeuer. Auf dem Grill züngelten Flammen über den Kohlen, es lief chilliger HipHop und Elektro. Die Geschenkemädchen zogen immer wieder den einen oder die andere zur Seite, damit alle auf der Geburtstagskarte unterschrieben und eingeweiht waren in das geplante Mitternachtsspektakel.

Gegen halb neun saßen nach und nach alle um das Lagerfeuer herum. Szusza schnappte sich die Trommeln, Matteo seine Gitarre, ein Mädchen nahm eine leere Flasche und schlug mit dem Feuerzeug dagegen, Cem beatboxte, und wer keinen Bock auf ein Instrument hatte, sang oder klatschte im Rhythmus mit. Sie spielten alles Mögliche rauf und runter, K.I.Z., Materia, Casper, aber auch Andreas Bourani und „Atemlos“ von Helene Fischer. Bald lagen die ersten Würstchen, Gemüse und Haloumi-Käse auf ihren Papptellern, die Salate wurden der Reihe nach probiert, Pidebrot am Lagerfeuer geröstet.

Um kurz vor zwölf setzten allgemeine Unruhe und Getuschel ein. Felix tat natürlich so, als bekäme er davon überhaupt nichts mit, um dann umso überraschter zu sein. Und dann war es endlich Mitternacht.

„Pscht“ – „Achtung!“ – „Wie spät ist es auf deiner Uhr?“ – „Geht’s jetzt los oder was?“ – „Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier …“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de