Roboter und Menschenmilch

CARTOON Eine Ausstellung in der Galerie neurotitan feiert 20 Jahre „Le Monde diplomatique“ und präsentiert ausgewählte Zeichnungen zur Lage der Welt, die gerade in einem Buch veröffentlicht wurden

Das Rahmenprogramm der Ausstellung bietet am Samstag, dem 10. 1. um 16 Uhr eine Signierstunde mit den Zeichnerinnen und Zeichnern des Buchs mit einer anschließenden Gesprächsrunde (ab 18 Uhr) zu autobiografischen und biografischen Comics sowie zum Verhältnis von Comics und Musik – mit Sophia Martineck, Sara Colaone, Jul Gordon und anderen. Moderiert von Brigitte Helbling und Jens Balzer. Am Sonntag zeigt das Kino Central um 20 Uhr den Film „Alois Nebel“ von Tomáś Luňák, der im Rotoskopieverfahren entstand, bei dem Filmsequenzen nachträglich durch Illustrationen animiert werden. Neben diversen Buchpräsentationen an den folgenden Wochenenden wird u. a. die Cartoonistin Aisha Franz am 16. 1. um 21 Uhr ein Comic-Konzert geben. NYM

■ 20 Jahre Le Monde diplomatique –„Comics zur Lage der Welt“: Galerie neurotitan, Rosenthaler Straße 39, Vernissage am 9. Januar, 19 Uhr, Ausstellung bis 31. Januar

VON NOEMI MOLITOR

„Wir sind eingeschlafen. Beim Aufwachen Ruinen, Täler in Glut, das Feuer hatte alles verschlungen ... Unsere Lieder verstummten. ... Seither haben wir Angst. Wir wissen nicht mehr, wie Licht machen, wie uns wärmen. Wir müssen wieder einen Frühling erfinden.“

So endete Cyril Pedrosa, bekannt durch seine filigran gezeichnete Graphic Novel „Portugal“, im April 2012 seinen Einseiter-Comic in der Le Monde diplomatique (LMd). Man weiß nicht, welches Feuer die beiden in Weiß auf Schwarz gestrichelten Figuren entfacht haben, welchen Krieg verschuldet. Sie sitzen zusammengekauert um ein Art Lichtball und scheinen die Letzten im Universum zu sein. Doch am Schluss kommt eine dritte Figur hinzu, vielleicht der Hoffnungsträger für den Frühling – Metapher für politische Umwälzung und Revolution.

Unter dem Titel „Comics zur Lage der Welt“ veröffentlichte der Reprodukt Verlag im März 2014 erneut einen Sammelband der besten Comicseiten der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique. Einmal im Monat erscheint die deutsche Ausgabe mit einem ganzseitigen Comic auf der letzten Seite. Karoline Bofinger, Herausgeberin des Bands und bei LMd für die Auswahl der Comics zuständig, hatte sich für diesen prominenten Platz in der Zeitung eingesetzt. Im aktuellen Sammelband finden sich 47 Favoriten aus 22 Ländern, erschienen zwischen 2010 und 2014. Es sind sowohl Arbeiten von etablierten Zeichner_innen als auch Werke von Newcomern vertreten. Bofinger lässt ihnen die größtmögliche künstlerische Freiheit, was Inhalt und Komposition angeht. Es muss weder welt- noch tagespolitisch sein, auch eine Frage, die die Künstler_innen persönlich bewegt, kann den Comic tragen. Einzige Vorgabe: Die Beiträge sollen eine Geschichte erzählen. Denn das unterscheidet Comics von Illustrationen.

Trotz dieser Narrenfreiheit schlagen die Zeichner_innen häufig dystopische Töne an: Tiere, Roboter und Implantate übernehmen die Kontrolle über die Menschen. Tim Gibsons Delfine der Zukunft beschließen die Produktion von Menschenmilch. Doch auch ganz reale Kriege, Flucht und Krisen durchziehen den Band. Die „Lage der Welt“ scheint düster.

Was das Comicgenre angesichts solcher Ernsthaftigkeit auszeichnet, ist seine Fähigkeit, verstörende Inhalte vielleicht nicht erträglicher, aber doch „sehbarer“ zu machen. Zeichnungen können zu Puffern werden, den Zugang zu schweren Inhalten ermöglichen.

In seiner „Maus“-Reihe, konnte Art Spiegelman auf diese Weise den Überlebenskampf seines Vaters in Auschwitz thematisieren. Olivier Kuglers Momentaufnahme eines Flüchtlingslagers im irakischen Teil von Kurdistan zeichnet seine Protagonisten, eine Familie aus Syrien, trotz der Tristheit des in Schwarz-Weiß gehaltenen Camps im Innern ihres Zelthauses in bunten Farben. Der Kopf der Tochter aber, die die Tür nach draußen öffnet, löst sich in transparenten Linien auf. Jenseits der privaten Ruhe ist auch die Figur nicht mehr intakt.

Oder aber Humor tritt an die Stelle von Horror. Bei Michael Meier lässt sich die Occupy-Bewegung von den Medien austricksen und verfällt der Konsumlogik: Da der am häufigsten interviewte Sprecher einen roten Pulli trägt, tragen ihn am nächsten Tag alle. Kapitalismusprotest als uniformer Look.

Comics erzeugen Klänge im Kopf des Betrachters

Zum 20-jährigen Jubiläum von Le Monde diplomatique eröffnet morgen Abend in der Galerie neurotitan die Ausstellung zum Buch, mit Originalen und Drucken aller Beiträge sowie weiteren Werken der Zeichner_innen, die zum Teil direkt auf die Wände gezeichnet werden. Unter dem Oberthema „Comics und Musik“ laufen Musikvideos und animierte Kurzfilme. Im Vorwort des Bands erörtern Brigitte Helbling und Jens Balzer, dass die Erzählrhythmen und Raumaufteilungen in Comics nicht nur metaphorische Komposition sind, sondern genau wie die Soundwords-Klangsprache des Comics („pow“, „puff“ „päng“), Klänge im Kopf des Betrachters erzeugen.

Viele der im Buch vertretenen Zeichner_innen sind musikalisch involviert. Jul Gordon etwa wird im Musikvideo „Funeral Joe“ von den Honeyheads zusammen mit einem Gespenst und einem Echsenwesen als selbst gezeichnete Buntstift-Krakelfigur eine Tanzperformance hinlegen. Auch frühe Verbindungen zwischen Comic und Musik, wie der Beatles-Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“ (1968), werden gewürdigt.

Aber was hören wir, wenn wir einen Comic lesen? Helbling und Balzer kommen zu dem Schluss, dass die Tempi und Tonalitäten der Zeichnungen wie Melodien Stimmungen erzeugen. Vielleicht finden Pedrosas Figuren am Ende ja doch noch ihre Lieder wieder.