Männer mit Bärten

WAHLPROGRAMME (7) Die Piratenpartei will echte Politik machen und hat den entsprechenden Jargon. Sie stellen Obst für Schüler, saubere Joints und ein Ende des Geschlechterzwangs in Aussicht. Für Kultur bleibt eine Seite

„Aufblühen in der Schwerindustrie“ von Kirsten Riesselmann (9. 9.): Die Linke glaubt sich selbst nicht: Ihre „Gute Arbeit“ gibt’s nur in Anführung.

„Die Stadt als Wimmelbild“ von Christiane Rösinger (2. 9.) über die Grünen: Eine Idylle mit Biowein.

„Straßenrand zu Buschland!“ von David Wagner (26. 8.): Die FDP will Gentrifizierung, Studiengebühren und mehr Büsche.

„Die DKP kämpft Tag und Nacht“ von Jörg Sundermeier (19. 8.): Sie haben die richtigen Argumente, aber Lokalpolitik machen wollen sie nicht.

„Die sind allen anderen voraus“ von Detlef Kuhlbrodt (12. 8.): Das 100-Punkte-Programm der CDU liest man wie einen Roman, die CDU ist auch eine gute Partei

„Die Arbeit kommt zuerst“ von Cord Riechelmann (5. 8.): Die SPD träumt weiter den Traum von der Vollbeschäftigung.

VON MARGARETE STOKOWSKI

Sie werden kommen, so viel ist klar. Mitunter freut man sich mit ihnen wie mit Kindern, die gerade ihre erste Schülerzeitung verkaufen. Vergangenen Freitag hieß es auf der Facebook-Seite der Berliner Piraten: „Der Helge aus der Mitgliederverwaltung meldet gerade, dass wir über 1.000 Mitglieder in Berlin haben!“

Die Piratenpartei wird nach der Wahl am Sonntag ziemlich sicher ins Abgeordnetenhaus einziehen. Erst staunten alle über die Umfragewerte von 4,5 Prozent, bald waren es 5 und dann 6,5, und plötzlich erzählen sich viele junge Leute, dass sie diesmal Piraten wählen. Die eine oder der andere greift also dieser Tage voller Hoffnung zum Wahlprogramm der Berliner Piraten. 51 Seiten geballte Fetzigkeit erwartet man da. Vorn gibt es ein Inhaltsverzeichnis, alles fein ordentlich, und dann – oje: sperrige Wörter, lange Sätze. Gleich auf der ersten Seite stehen kalte Konstruktionen wie „die personelle Zusammensetzung der Vertretungskörperschaften“. Verdammt, die machen wirklich Politik. Und das alles ohne Gendern.

Dabei sind die Inhalte auch auf den ersten Seiten gar nicht trivial. Es geht um Wahlrecht für mehr Menschen und mehr Entscheidungsrecht für die Bezirke. Außerdem soll die Fünfprozenthürde auf drei Prozent gesenkt werden, was in Berlin allerdings die desaströse Folge haben könnte, dass die FDP irgendwann wieder mitspielt, statt irgendwo unter „Sonstige“ ein schummriges Schattendasein zu führen.

Auf den weiteren Seiten mischen sich Kalendersprüche für Nerds – „Transparenz ist keine Anordnung, Transparenz muss gelebt werden“ – mit vielen Open-Wörtern: OpenData, OpenCommons und OpenAccess ergeben zusammen, na ja: OpenGovernment. Man will sich abheben von „den Altparteien“. Dann natürlich die piratentypischen Themen: Sie wollen freies WLAN für Berlin und die dazugehörige Technik auf die Dächer öffentlicher Gebäude bauen. Wer sich noch nicht auskennt, soll in kostenlosen Schulungen lernen dürfen, wie das mit dem Internet so funktioniert. Kostenlos soll auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel werden. Es soll mehr Freiheiten im Versammlungsrecht geben und weniger Videoüberwachung, außerdem recht bald einen Mindestlohn und irgendwann ein Grundeinkommen.

In den Schulen will die Piratenpartei kleine Klassen mit je 15 Lernenden und mehr Unterstützung für die Lehrenden. (Oha, plötzlich wird gegendert.) Und dazu: digitale Arbeitsmittel, Medienkompetenz, ein warmes Mittagessen für alle und mehr Obst dank EU-gestützter Schulobstprogramme. An den Unis soll die Regelstudienzeit gestrichen werden, Obst ist hier nicht geplant.

Außerdem gibt es jede Menge Schutz für alle möglichen bisher Benachteiligten: Geschützt werden sollen Whistleblower, die Hausbesetzerkultur, Schwarzfahrer, Flüchtlinge und Asylsuchende und der Mauerpark. Ein eigenes Kapitel gibt es für das Thema „Suchtpolitik“. Es wird genauso ausführlich behandelt wie „Wirtschaft und Sozialpolitik“. In der Schule soll es „Rauschkunde“-Unterricht geben, Ziele sind Selbstkontrolle und ein „risikoarmer Umgang mit Rauschmitteln“. Mit der liebevollen Begründung, Polizei und Staatsanwaltschaft sollten „von zehntausenden Verfahren entlastet“ werden, soll gelegentlicher Drogenkonsum entkriminalisiert werden. Cannabis soll bundesweit legal und nicht mit gefährlichen Zusatzstoffen vermischt werden.

Die Piraten möchten die Fünfprozenthürde senken, was der FDP helfen würde

Wie Lena Meyer-Landruth

Die letzten drei Kapitel wirken etwas hinterhergekleckert: „Geschlechter- und Familienpolitik“, „Staat und Religion“ und „Kunst und Kulturpolitik“ bekommen jeweils eine knappe Seite. Dabei sind etwa die geschlechterpolitischen Forderungen überhaupt nicht unrevolutionär: Die staatliche Erfassung des Merkmals „Geschlecht“ wird abgelehnt, stattdessen die freie geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung und die Vielfalt von Formen des Zusammenlebens gefordert. Eine Partei, die in ihrem Programm konsequent von „dem Bürger“ spricht, kann auch feministische Themen mal kurz auf Seite 47 von 51 abhandeln.

Ganz am Ende ein paar Worte zur „Kulturentwicklungsplanung“, ein graziler stilistischer Bogen zu den hässlichen Konstruktionen auf den ersten Seiten. Die Piraten präsentieren sich in diesem Wahlkampf als die Lena Meyer-Landrut unter den Parteien. Erst belächelt, dann schaffen sie das Unmögliche, und plötzlich wird es schick, sie cool zu finden. Na, dann mal frohes Kapern.