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: Konzerte im Stralau 68

Auf die Halbinsel Stralau zwischen Spree und Rummelsburger See kommt man nicht zufällig. Einer der Anziehungspunkte ist der Konzertort Stralau 68, direkt an der S-Bahn-Trasse. Der mit Graffiti übersäten Flachbau verrät von außen nichts, teilt sich aber im Innern sofort als Ort des musikalischen und szenischen Experiments mit. In den 1960er-Jahren war das eine Kantine für Bahnarbeiter, vermutet Jürg Bariletti. Der 1968 geborene Schweizer Pianist und Experimentalmusiker lebt seit 2001 in Berlin und hat hier den interdisziplinären und internationalen Veranstaltungsort Stralau 68 aufgebaut. Als Veranstalter von experimenteller Musik und Musiktheater war er zuvor bereits in der Schweiz aktiv und wurde mit Förderpreisen unterstützt.

Als Bariletti einzog, gab es nichts, was funktionierte. Im ersten Jahr hat er in mühsamer Arbeit, aus eigener Tasche finanziert und praktisch im Alleingang, Elektrizität, Heizung und sanitäre Einrichtungen funktionstüchtig gemacht und das ganze Gebäude als Konzertort hergerichtet. Es gibt zwei große Räume, einen sanitären Bereich mit Toiletten, Waschbecken, Duschen und eine halb eingerichtete Großküche. Im kleineren der beiden großen Räume lebt und arbeitet Bariletti, hier befindet sich sein Labor: Dazu gehören ein für mobile Theatermusik entwickelter Klangkoffer, aus- und umgebaute Gusseisenplatten mit Stimmstock und Besaitung und Spielwerke, die völlig anderes als Klaviersaiten zu bespielen sind. Alles ist und atmet Musik. Barilettis programmatisches Konzept heißt: „Improvisation als Ideologie“.

Im Veranstaltungsraum stehen die beiden Flügel, die Stralau 68 in der Reihe der Kleinveranstaltungsorte der Berliner Freien Szene eine Sonderstellung einnehmen lassen. Der schöne Bechstein wird von Bariletti selbst gestimmt und in Schuss gehalten, der zweite Flügel steht für Präparationen aller Art zur Verfügung. Stralau 68 ist keine Wohnung, Kneipe oder Galerie, wo zusätzlich manchmal experimentelle Musik stattfindet, sondern es ist ein Ort, der mit, für und aus der experimentellen Musik heraus existiert und lebt.

Den gering bemessenen Eintritt gibt Bariletti vollständig an die Musiker weiter. Stralau 68 ist in der internationalen Szene experimenteller Musik inzwischen einer der begehrtesten Spielorte weltweit. Es gibt zwar kein Geld, keine Presse, keine Stipendien und Preise, aber Bariletti bekommt ständig Anfragen internationaler Musiker, die auf eigene Kosten anreisen, um hier auftreten zu können. Auch nahezu alle experimentellen Stilrichtungen der Berliner Szene sind hier regelmäßig vertreten. Über das Programm entscheidet er allein, auch sonst macht er meist alles selbst. Er legt Wert darauf, dass ihm keiner dreinredet.

DIETRICH EICHMANN