Blick mit Lyrik durch die Welt

STIMMEN Seit 20 Jahren bringt die Literaturwerkstatt Wortkunst unter die Leute. Außerdem organisiert sie den Nachwuchswettbewerb Open Mike und das Poesiefestival. Zum Jubiläum gibt es ein großes Festprogramm

VON PATRICIA HECHT

Dass Lyrik laut sein kann, ist keine Erkenntnis, die hierzulande besonders verbreitet wäre. Gedichte findet man höchstens im Buch: verbannt in die Stille. „Aber das Buch ist ein problematisches Medium dafür“, sagt Thomas Wohlfahrt, Leiter der Berliner Literaturwerkstatt. „Die grafische Inszenierung kann nicht leisten, was ein Gedicht zum Gedicht macht.“ Seit zwanzig Jahren arbeiten Wohlfahrt und sein Team deshalb daran, Wortkunst unter die Leute zu bringen – dahin, wo sie herkommt und hingehört: mit Rhythmus und Betonung auf Hebräisch, Spanisch oder auf Schweizerdeutsch in Parks performt, digital aufbereitet und ins Netz gestellt, als Wortkonzert komponiert und unter freiem Himmel mit Musik gespielt. Das Jubiläum und das Verdienst der Literaturwerkstatt, Lyrik ihre Stimme wiederzugeben, werden heute ab 14 Uhr mit mehr als vierzig Veranstaltungen gefeiert.

Lob von der Unesco

Ohne die Werkstatt wäre Berlin um einige kulturelle Schwergewichte leichter, leiser: Unter ihrem Dach werden jährlich der Nachwuchswettbewerb Open Mike und das Poesiefestival organisiert, das bundesweit wichtigste Festival für Lyrik und mit bis zu 14.000 Besuchern eines der größten und wichtigsten in Europa. Das Onlineportal Lyrik-Line, eine Hörbibliothek der Weltpoesie, ausgezeichnet mit dem Grimme-Online-Award und von der Unesco, wächst und gedeiht. Und nicht zu vergessen die noch jungen Projekte wie das Zebra-Festival für Poesiefilme und die kontinuierliche Einmischung ins kulturelle Tagesgeschäft durch Kolloquien, Workshops und auch einfach mal nur Lesungen.

Untrennbar verknüpft sind die Werkstatt und ihr Leiter, Thomas Wohlfahrt, als Musik- und Literaturwissenschaftler schon früh genreübergreifend interessiert. Der gebürtige Thüringer, groß, mit tiefer Stimme und kurzen grauen Haaren, war 1988 nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Ostberlin zurückgekehrt. „Das war zunehmend unlebbar geworden“, sagt er. Den Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften war er los, im Westen organisierte er erste literarische Veranstaltungen.

Kurz nach der Wende besetzten Autoren die frühere Villa des ersten Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, die in den 1980er Jahren an den DDR-Schriftstellerverband übertragen worden war – als politisches Dankeschön, sich nach der Biermann-Ausbürgerung konform verhalten zu haben. Nun sollte das Haus in Pankow ein Treffpunkt für Kunst und Literatur werden. Und weil nach der Vereinigung ein städtischer Etat da war für Kulturprojekte und Wohlfahrt eben auch, wurde er 1991 Gründungsdirektor der Literaturwerkstatt.

Der Blick in die Welt gehörte von Anfang an dazu. „Mich hat immer das Internationale interessiert, gebrochen durchs Lokale“, sagt der heute 55-jährige Wohlfahrt. Beim ersten Festival 1991 mit irischen Autoren wurde auf Ost-West-Berliner Fragen nord-süd-irisch geantwortet. Zugleich war das Lokale nicht immer einfach: Für viele Ostberliner war die Villa mit Garten ein Unort. Ostalgisch jedoch, wie manche vermuteten, sollte es in der Literaturwerkstatt nicht zugehen. Interdisziplinär, wie im literarischen Untergrund der DDR angelegt, das schon. Aber zeitgenössisch, diskussionsfreudig, offen für alle.

Auch wenn die Prosa heute noch im Programm ist, wurde langsam die Lyrik zum Mittelpunkt der Werkstatt. „Was kann sie, wohin führt sie, das haben wir uns gefragt“, sagt Wohlfahrt. „Und wieso hat sie so einen schlechten Ruf? In anderen Ländern füllen Lyriker Stadien.“ In Berlin fand sie zumindest bald auf die Bühne: mit dem Nachwuchswettbewerb Open Mike, der sich seit 1993 mit Preisträgern wie Kathrin Röggla, Terézia Mora oder Tilman Rammstedt zu einem der literarischen Ereignisse des Jahres entwickelt hat. 2001 kam das Poesiefestival dazu, mehr als 8.000 Autoren haben seitdem hier gelesen, darunter Heiner Müller, Yves Bonnefoy, Ernst Jandl oder Derek Walcott.

Raum für Sprachspiele

Immer mal im Konkurrenzkampf mit dem Internationalen Literaturfestival und immer mal in finanziellen Nöten fand man die Werkstatt auch. Immer wieder wurde sie aufgefangen, etwa durch den Hauptstadtkulturfonds oder die Bundeskulturstiftung, immer wieder schafft sie Raum für poetische Neuentdeckungen, sprachspielerische Experimente, interdisziplinäre und multimediale Poesie fürs Publikum. Sie mischt sich ein, künstlerisch, ästhetisch.

Ein Ziel der vor einigen Jahren aus pragmatischen Gründen in die Kulturbrauerei umgezogenen Werkstatt: ein Zentrum zu werden für Poesie mit einer Mediathek als Herzstück. Veranstaltungs- und Ausstellungsort zugleich soll es sein, sinnlich und erlebbar, raus aus der Stille. „Gedichte wollen gehört werden“, sagt Wohlfahrt. Diesen Wunsch erfüllt ihnen die Literaturwerkstatt bereits.

■ Programm am Samstag ab 14 Uhr: www.literaturwerkstatt.org