Ein echter Balanceakt

EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT Als direktem Nachbarn Russlands könnte Lettland im nächsten halben Jahr eine besondere Rolle zufallen

„Wir werden die Auffassungen aller Mitgliedsländer der EU berücksichtigen“

EDGARS RINKEVICS

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

„Lichtschloss“ nennt man in Riga die neue Nationalbibliothek am Daugava-Ufer. Und vor dem „Lichtschloss“ wehen seit Montag die Flaggen der 28 EU-Staaten. Für die Öffentlichkeit wird die erst im vergangenen Jahr eröffnete Bibliothek die nächsten sechs Monate geschlossen bleiben: Neben den Verkehrsstaus ist das ein „Opfer“, das die BewohnerInnen der lettischen Hauptstadt bis Ende Juni für die erste EU-Präsidentschaft ihres Landes bringen müssen. Denn das „Lichtschloss“ wird der Versammlungsort sein, in dem die meisten Veranstaltungen der EU-Präsidentschaft stattfinden.

Am Donnerstag war dies der Antrittsbesuch der EU-Kommission. „Wir haben eine ambitiöse und für die EU notwendige Arbeitsperiode vor uns“, sagte Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma den Besuchern. Sie zitierte den offiziellen Slogan der Ratspräsidentschaft – das Streben nach einem, „konkurrenzkräftigen, digitalen und engagierten Europa“ –, das alle Bereiche von den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen bis zur „östlichen Partnerschaft“ umfasse. Etwas konkreter hatte Außenminister Edgars Rinkevics benannt, was Lettland in „seinem“ Halbjahr leisten möchte: den EU-Investitionsplan für Wachstum und neue Jobs auf die Schiene setzen und die Weichen für eine von Russland weniger abhängige EU stellen. Ein Großteil der Gelder aus dem Investitionsplan soll in die Infrastruktur fließen, die die Gemeinschaft zu einer „Energieunion“ machen soll, in der die einzelnen Mitglieder weniger anfällig von Lieferengpässen werden. Im Klartext: Moskau soll die EU nicht mit dem Gashahn erpressen können. Was laut Rinkevics aber nicht dahin missverstanden werden dürfe, dass Lettland eine „Präsidentschaft gegen Russland“ führen wolle. Allerdings auch keine „pro Russland“: „Wir werden die Auffassungen aller Mitgliedsländer berücksichtigen.“

Lettland wird den Auftrag bekommen, das Schicksal der Sanktionen gegen den russischen Nachbarn zu verwalten. Die ersten laufen im März aus, die einschneidendsten – gegen russische Banken und Energieversorger – im Juli. Will man sie verlängern, bedarf es einstimmiger Beschlüsse. Rinkevics sagte dazu: „Wenn die Dinge sich in der Ostukraine verbessern, Russland eher ein Teil der Lösung statt ein Teil des Problems wird, können wir sie abmildern oder aufheben.“

Ein weiterer Schwerpunkt der lettischen Ratspräsidentschaft: Die EU hat 2015 zum „Europäischen Jahr der Entwicklung“ erklärt. Nach 15 Jahren läuft die Frist zur Verwirklichung der im Jahr 2000 vereinbarten Millenniumentwicklungsziele aus und auf der Agenda steht die Einigung für einen neuen globalen Rahmen zur Armutsbekämpfung. Offiziell wird das Themenjahr am Freitag in Riga eröffnet. Damit will man auch EU-BürgerInnen stärker für entwicklungspolitische Fragen interessieren.

Unvermeidbar wirft die Ratspräsidentschaft auch ein Schlaglicht auf Lettlands Innenpolitik. Regierungschefin Straujuma führt eine Koalition, der die Nationale Allianz (Nacionala Apvieniba, NA; www.nacionalaapvieniba.lv) angehört, die auch drei MinisterInnen stellt. Eine rechtsextreme, fremdenfeindliche Partei, die aus Lettland einen ethnisch „reinen“ Staat machen will. Im Europaparlament arbeitet sie mit Parteien wie AfD, den Wahren Finnen und der Dänischen Volkspartei zusammen. Und ihre Vertreter organisieren in Riga regelmäßig die jährliche Ehrenfeier für die Veteranen von Hitlers lettischer Waffen-SS-Einheit mit.

Der lettische Amtskollege von Bundesjustizminister Heiko Maas hat in der Vergangenheit als Parlamentarier mehrfach an der SS-Feier teilgenommen. Ein Foto aus dem Jahre 2011 zeigt Dzintars Rasnacs zusammen mit dem NA-Parteivorsitzenden in der ersten Reihe dieses jährlich am 16. März stattfindenden Marsches. Die konservative Parteifreundin der Bundeskanzlerin glaubt zwar, nicht auf solcherart Koalitionspartner verzichten zu können, hat aber nun zumindest ihrem Kabinett die persönliche Teilnahme an dieser Veranstaltung verboten. Im letzten Jahr hatte Straujuma deshalb ihren Umweltminister entlassen. Ihm war der SS-Marsch wichtiger als sein Ministeramt.