Vom nahen Ende des Öls

Mit „Nafta!“, einer zynischen Revue, eröffnet heute eine estnische Produktion das Theaterfestival „Projektion Europa“ am Hamburger Schauspielhaus. Getextet hat die renommierte Tallinner Videokünstlerin Ene-Liis Semper, die sonst eher Selbstmorde und sonstige psychische Düsternis zelebriert

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VON PETRA SCHELLEN

Estland? War da was? Ach ja, die Weltkulturerbe-Hauptstadt Tallinn. Das angeblich so florierende EU-Beitrittsland. Und jener bizarre Staat, der allen Einwohnern einen kostenlosen Internet-Anschluss garantiert. Und sonst? Gibt es noch das Theater. Die teils sehr experimentellen Bühnen eines Landes, das sprachlich und kulturell eher Finnland gleicht und sich der Sowjetunion nie verbunden fühlte. Nicht historisch und nicht kulturell.

Diese Fakten sind enorm wichtig für eine Künstlerin wie Ene-Liis Semper, wenn sie über Europa spricht. Das tut sie nicht ständig, aber zum Beispiel anlässlich des Gastspiels von „Nafta!“ beim heute startenden Theaterfestival „Projektion Europa“ am Hamburger Schauspielhaus. Insgesamt sechs Produktionen werden sich dort in den nächsten zehn Tagen präsentieren – auch aus Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz.

Doch auch Neu-EU-Bürgerin Ene-Liis Semper und ihr Dramaturg Eero Epner sind keine verhuschten Persönlichkeiten. Schnörkellos reden sie über ihr Europäisch-Sein. Darüber, dass sie sich nie als „Osteuropäer“ bezeichnen würden. Darüber, dass sie so anders seien als die verhassten Russen, vor allem das.

Warum haben sie aber dann mit „Nafta!“ ein Stück über das Versiegen der globalen Ölreserven gemacht? „Weil dies ein aktuelles und globales Thema ist“, sagt Ene-Liis Semper. Und weil es ein Problem beleuchtet, das auch in Estland, das stark von russischen Gas- und Öllieferungen abhängt, keiner wahrhaben will.

Eine ironische Revue haben Ene-Liis Semper und Co-Regisseur Tiit Ojasoo daher zusammengestellt, leicht in der Form und ernst im Inhalt. Zitate estnischer Grüner und des Staatspräsidenten, der das Problem leugnet, haben sie zu einer Text-Musik-Collage zusammengebastelt, die in Estland permanent ausverkauft ist.

Und das, „obwohl die Esten, die ja gerade erst beginnen, den Wohlstand zu genießen, davon eigentlich gar nichts hören wollen.“ Eero Epner ist ehrlich: „Ich vermute, sie kommen nicht wegen des Themas in unsere Vorstellungen, sondern wegen der unterhaltsamen Form.“ Aber das macht nichts, denn kleine Wirkungen zeitigt die Revue doch. „Es sind schon Zuschauer zu mir gekommen, die sagten, sie wollten ab jetzt weniger Auto fahren“, erzählt Semper. „Es ist wie mit der bitteren Pille. Man muss sie in den Brei tun, damit der Patient sie nicht bemerkt“, sagt Epner sarkastisch. Schimmert da eine winzig kleine erzieherische Absicht durch? Vielleicht, vielleicht nicht. Ist auch nicht so wichtig.

Entscheidend ist vielmehr, nicht im estnischen Kontext zu verharren. Sich mit europäischen, globalen Themen ins Gespräch zu bringen, an der internationalen Kunst- und Theaterszene teilzuhaben. Ene-Liis Semper tut das bereits – in ihrem anderen Genre: Seit 1998 erregen ihre Performances und Videos – wie das x-mal vor -und zurückgespulte Selbstmord-Video – international Beachtung. 2001 war sie auf der Venezianer Biennale zu Gast.

Die Revue „Nafta!“ ist das Gegenteil ihrer sonst so tristen Arbeiten. Und sie gefällt nicht nur den Esten: Auch die Schweizer haben schon über das Stück gelacht. Jetzt will Semper wissen, wie das deutsche Publikum reagiert. Vor allem deshalb ist sie in die „Projektion Europa“ eingestiegen: um zu erfahren, wo ihre Theatersprache im internationalen Ranking steht. „Das Thema Europa ist uns gar nicht so wichtig. Da gehören wir sowieso dazu“, sagt Eero Epner. Und dann wird er ernst und nationalistisch: Wichtig sei vor allem, die estnische Identität zu wahren. Estland, Europa – das sei etwas komplett anderes als Russland, darauf bestehen beide.

Im Detail allerdings scheiden sich die Geister „Ich würde nicht sagen, dass Europa eine andere Ethik pflegt als Russland“, sagt Epner. „Das wäre purer Rassismus. Man kann nationalistisch sein, ohne Rassismus zu pflegen.“ Aber die Russen seien eben doch anders, sagt Semper schnell. Die hätten nichts als ihr großes Land, um stolz zu sein, ansonsten keine sozialen Sicherungen…

Konkreter wird es nicht. Der vielleicht verständliche Reflex eines Volkes, das sich erst kürzlich von der Ex-Sowjetunion emanzipierte. Eins wissen sie aber sicher: „Das historische und geographische Europa endet an der estnischen Ostgrenze“, sagt Epner. Mentalitäten dagegen – ein weites Feld. Unsinnig und unnötig, ständig darüber zu philosophieren, findet er. Unsinnig auch, den Verlust estnischer Identität im vereinten Europa zu fürchten. „Wir sind nur 1,2 Millionen Menschen. Da müssen wir natürlich kämpfen, um unsere Sprache und Kultur zu bewahren“, sagt er. „Aber wir haben 50 Jahre russischer Okkupation überlebt, da werden wir auch die EU überleben“, sagt Semper sarkastisch. In die sie doch selbst hinein wollten? Ja – aber nicht alle. Ein Drittel der Esten hatte sich gegen den EU-Beitritt ausgesprochen. Und den Euro gibt es in Estland auch noch nicht. Dafür handfeste Streitigkeiten über das Zusammenleben mit den 30 Prozent Russen im Land.

Estland wird noch eine Weile zwischen den Stühlen sitzen bleiben. Seine Künstler nicht. Die wollen keine internen Querelen zum Thema machen. Viel zu provinziell. Die gehen lieber gleich ans Öl.

Projektion Europa: 31.8.–9.9.