BERLINER PLATTEN
: Ersatzmusik: Zven Kruspe und De/Vision revitalisieren Sounds, die es schon mal gab

Der Rammstein-Fan muss sich seit dem letzten, nun auch schon zwei Jahre alten Album „Rosenrot“ die Zeit vertreiben mit üppigen Live-DVDs oder mit Drang zum Größenwahn ausgestatteten Prachtbildbänden. Momentan schreibt Berlins erfolgreichster Exportartikel, so ist zu hören, zwar an neuem Liedgut, aber bis zur nächsten Dosis Rolling-R-Rock kann es noch ein bisserl dauern. Da kommt Emigrate gerade recht, denn hinter dem Pseudonym verbirgt sich niemand anderer als Rammstein-Gitarrist Richard Zven Kruspe. Berlin, dem Standort von Rammstein, hat der gebürtige Schweriner Kruspe bereits 1999 den Rücken gekehrt und lebt nun die meiste Zeit in New York. Das kann man auch daran hören, dass auf dem selbst betitelten Debütalbum Englisch gesungen wird – von Kruspe selbst, dessen helle, fast jugendliche Stimme in großem Kontrast steht zu Till Lindemanns den Rammstein-Sound prägenden Kinderschänder-Organ. Auch ansonsten klingt „Emigrate“ – obwohl Rammstein-Produzent Jacob Hellner seine Finger im Spiel hatte – nicht allzu sehr nach Kruspes hauptberuflicher Betätigung. Selbst die Gitarren, die er spielt, sind zwar sehr schwer, orientieren sich aber grundsätzlich eher an klassischen Metal-Entwürfen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren bis hin zum Industrial Rock der Neunziger. So ist „This Is What“ eine durchaus gelungene Ministry-Kopie geworden und „Babe“ ist nicht nur eine vom Titel her klassische Power-Ballade, wie sie seit den Siebzigerjahren auf keinem zünftigen Heavy-Metal-Album fehlen darf. In der Strophe von „New York City“ gelingt Kruspe auch tatsächlich eine lässige Rocker-Coolness, die an The Cult erinnert. Dieser wirklich schöne Moment allerdings wird schon im Refrain desselben Songs wieder niedergeknüppelt und dazu noch verziert mit einem wenig einfallsreichen Text: „Now I feel like seventeen/ New York City is the place to be“. Aber grundsätzlich gilt: Wenn man davon absieht, die Texte übersetzen zu wollen, ist Kruspe mit „Emigrate“ ein solides Stück Rockmusik gelungen, das problemlos mit den momentan gültigen Metal-Rock-Entwürfen konkurrieren kann, für einen echten Rammsteinianer aber kaum mehr ist als ein unzureichendes Surrogat.

Dass man als Ersatzdroge durchaus dauerhaften Erfolg haben kann, beweisen mit 19 Jahren Existenz und bereits zwei Best-of-Alben De/Vision. Auf „Noob“ klingt das Duo wieder mal vor allem unverschämt nach Depeche Mode. Dabei werden gekonnt alle Schattierungen der Schwermut durchdekliniert und mit den bekannten Synthie-Sounds und Sequenzer-Beats orchestriert. Auch ansonsten hält man sich mit Experimenten zurück, mit denen die so treue Klientel früher gerne mal verstört wurde: also keine allzu schrägen Samples, keine krachenden Gitarren, keine allzu deutlichen Anleihen beim Industrial und meistens ein gemütlich mittelschnelles Tempo. Auch die bislang eher peinsamen Versuche, deutsch zu texten, finden keine Neuauflage. Kurz: die perfekte Platte, die Wartezeit zum nächsten Depeche-Mode-Album zu verkürzen. THOMAS WINKLER

Emigrate: „Emigrate“ (Motor Music/Edel) De/Vision: „Noob“ (Drakkar/SonyBMG), live am 7. 10. im Columbia Club