Erfolgreich ohne Sieg

Im Band „1968 und die Arbeiter“ betrachten die Herausgeber Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn 1968 als blockübergreifendes Ereignis

In „The Resurgence of Class Conflict in Western Europe since 1968“ von Pizzorno & Crouch (Macmillan, 2 Bde., 1978), ist einleitend der Vietnamkrieg erwähnt, der Prager Frühling nicht – der Blick galt damals nur Westeuropa. Die Verbindung von studentischen Protesten und Arbeiterkämpfen sah man skeptisch-differenziert.

Rechtzeitig vor 2008, dem 40. Jubiläum von 68, kommt nun ein Band heraus, der eine andere Perspektive einnimmt, publiziert von dem Westdeutschen Gerd-Rainer Horn und dem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler BerndGehrke. Ihr Fazit: Jedenfalls war die Selbstverwaltung in Theorie und Praxis ein gemeinsames studentisch-proletarisches Projekt. Leider nur verschwand es schnell wieder.

1968 war ein internationales Ensemble von Revolten, das ost-west-blockübergreifend aufgearbeitet werden muss. Schließlich ist die maoistische Kulturrevolution ebenso eine ihrer Wurzeln, auch wenn sie autoritär war, wie der Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Ferner wichtig waren die Berkeley-Revolte 1964 für das Recht, auf dem Campus „Fuck“ zu sagen, und der Sputnik-Schock, also die Bildungsaufholjagd im Westen wegen der sowjetischen Weltraum-Intelligenz. Ein großes Verdienst dieses Buches ist es, dass Ost und West zusammenkommen. Die westdeutschen „wilden“ Septemberstreiks 1969 stehen neben den DDR-Protesten „Solidarität mit Prag“ gegen das Zertreten des „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ (Michael Hofmann, Bernd Gehrke).

Peter Heumos und Lenka Kalinová analysieren „unromantisch“ den politischen Prager Frühling neben den ökonomischen Kämpfen, die schlicht einem höheren Lebensstandard galten. Nachhilfe fürs westliche Weltbild bieten Andrea Genest und Marcin Zaremba über die polnischen „Märzereignisse“ 1968 und den Arbeiteraufstand 1970. Bemerkenswert ist die Auseinandersetzung mit der herrschenden Bürokratie, die von der Opposition erst als „zionistisch“ beschimpft wurde – fern aller Beweise. 1968 wechselte man dann blitzschnell zum Uralt-Vorwurf des „Revisionismus“.

In Belgien organisierten Rik Hemmerijckx' Beitrag zufolge Trotzkisten sogar ein wenig Kommunikation zwischen Universitäten und Betrieben. Frank Georgi verklärt im Frankreich-Beitrag am Beispiel „Lip“ die erwähnte Rolle der Selbstverwaltung nicht nur als ein Kampfziel in einem Land. Im noch-faschistischen Spanien war der Kampf so international wie seinerzeit im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939. Am Beispiel Italien, wo die Gruppen „Lotta continua“ und „Potere operaio“ lebendige Begriffe blieben, ziehen Marica Tolomelli und Vittorio Rieser ein Fazit, das generell gelten kann, denn Italiens „heißer Herbst 1969“ war bemerkenswert frei von organisatorischen Bindungen und frei von ideologischen Phrasen.

Vielleicht wissen wir seit 1968 besser, wie wir aktiv werden können, und weniger sicher, für welches Ergebnis. Nicht zuletzt weil sich der Kapitalismus in halbwegs demokratischen Ländern teilweise als lernfähig erwiesen hat. 1968 war die erste Revolution, die weder gesiegt hat noch an die Wand gestellt wurde, so Carlo Jaeger, der Klimafolgenforscher und Initiator der 1980er-Zeitschrift fürs ökologische Lernen des Protests, „Alemantschen“.

„Nicht gesiegt“ markiert sogar eine Art Erfolg. Denn mal ehrlich: Rechnen wir nach dem Sieg einer linken Revolution eher mit Demokratie oder mit Diktatur? Darüber haben wir nachzudenken. Und, nach dem allzu kurzen Triumph der Selbstverwaltung – wie könnte eine sozialistische Wirtschaft dauerhaft funktionieren? Heute wissen wir doch: „It's the economy, stupid!“

RICHARD HERDING

Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hg.): „1968 und die Arbeiter. Studien zum proletarischen Mai in Europa“. VSA, Hamburg 2007, 334 Seiten, 19,80 Euro