Im Konzertsaal geschwebt

MUSIKFEST In der Philharmonie wurde nach 23 Jahren wieder Luigi Nonos „Prometeo“ gegeben. Das hatte etwas Magisches

In der Philharmonie herrscht Ausnahmezustand. Schon kurz nach halb acht sind sämtliche Bäume und Masten mit Rädern zugeparkt, auf der Zufahrt ist ein irres Gewusel, nebenan singt sich stimmgewaltig der Rundfunkchor ein.

Es ist Samstag, und im Rahmen des Musikfests finden zwei Großveranstaltungen gleichzeitig statt. Im großen Haus treten die Philharmoniker nebst drei Chören mit Mahlers 8. Symphonie an, und im Kammermusiksaal wird Luigi Nonos „Prometeo“ gegeben – zwei auf sehr unterschiedliche Art extreme Werke. Bei Mahler war ich zwei Tage zuvor. Und bei allem Respekt vor der Leistung (des Sir Simon und seiner vielen Mitwirkenden), die Aufführung dieses gigantomanen Werkes auf die Beine zu stellen, wird Mahlers Achte in diesem Leben nicht meine Lieblingssymphonie werden. Mit seinem auf maximale Wirkung konzipierten Riesengestus wirkt dieses Opus heutzutage extrem befremdlich; und wenn es auch viele Gründe gibt, warum man Mahler spielen sollte, so fallen sie mir dieses eine Mal alle nicht ein. Die feineren Nuancen zwischen exaltiertem fff – fortissimo possibile – und ekstatischem fffff sind an mir vorbeigegangen.

Aber jetzt: Nono, das Kontrastprogramm. Der Kammermusiksaal ist voll. 1988 wurde „Prometeo“ schon einmal hier aufgeführt, da war der Meister noch selbst dabei und konnte über die Aufstellung der Mitwirkenden selbst entscheiden. Es ist anzunehmen, dass auch die jetzige Aufführung so gestaltet ist, wie es damals in seinem Sinne war. Die Komplexität des Werkes und die Anforderungen, die es an den Saal stellt, bringen es mit sich, dass es nicht allzu oft realisiert wird. Wer es also diesmal verpasst hat, muss möglicherweise wieder 23 Jahre warten.

Dirigenten braucht es zwei

Für diesen „Prometeo“ wurde gebraucht: das Ensemble Modern, das Konzerthausorchester Berlin, der exquisite kleine Chor Schola Heidelberg, das Experimentalstudio des SWR – die Klangregie ist eigentlich das Wichtigste –, zwei Sprecher- und fünf SolosängerInnen. Die Orchester sind in kleinen Instrumentalgruppen im Raum verteilt. Zum Dirigieren braucht man hier zwei. Das machen der Spanier Arturo Tamayo und die junge Britin Matilda Hofman, deren Bewegungen von so berückend fließender Eleganz sind, dass es schon ausreichen würde, ihr nur zuzusehen, um in Trance zu fallen. Das ist es ohnehin, was bei dieser Musik passieren kann.

Dabei habe ich vorher emsig im Programmheft gelesen. Das versammelt unter anderem sämtliche Texte, die dem Stück zugrunde liegen, und erläutert auch den Aufbau ihrer einzelnen Teile, die manchmal „Interludio“, oft aber „Isola prima“, „Isola seconda“ und so weiter heißen. (Nono wohnte in Venedig.) Doch ich verpasse den Punkt, da der Prolog in die erste der „Inseln“ übergeht, und beschließe, in den Klängen zu baden.

Von den Texten verstehe ich nur „Mnemosyne“, das ist die Tochter der Erdgöttin Gaia. Und es macht gar nichts. Man kann einfach dasitzen und dankbar sein, dass man diesen urmythisch schwebenden Klängen, die oft ganz rein und ebenso oft ganz fein mikrotonal gegeneinander verschoben sind, so lange nachlauschen darf. Etwas Meditatives liegt im Mit- und Nacheinander der Stimmen, die sich nie gegenseitig überdecken, nur dem Klang Neues hinzufügen, ihn weitergeben oder gemeinsam eine neue Klangstufe erreichen. Lang gehaltene Töne durchziehen das Werk, und immer mal wieder schicken André Richard und die Männer an den Mischpulten sie quer durch den Raum. Ja, es hat etwas Magisches. Als man später sein Fahrrad suchen geht, sind die meisten anderen Räder schon wieder verschwunden. Der Mahler ist längst vorbei. KATHARINA GRANZIN