Nur der Dom war überfordert

Das Bremer Musikfest beginnt, den gesamten Nordwesten zu beschallen. Die eigene Innenstadt ist durch das opulente Auftakt-Festival bereits in Beschlag genommen

Einmal im Jahr werden selbst im Glamour-freien Bremen rote Teppiche gerollt. Das holprige Kopfsteinpflaster an der „Domsheide“, an 364 Tagen nüchterner Straßenbahnknoten, verwandelt sich in eine exquisite Zone, das gegenüberliegende Konzerthaus „Glocke“ zum Zentrum des dreiwöchigen „Musikfests“ mit einer speziellen Affinität zu hochambitionierter „Alter Musik“. Eine andere Besonderheit des Festivals: Es hat sich räumlich enorm ausgeweitet.

Schon der Eröffnungsabend nimmt den gesamten historischen Stadtkern in Beschlag. Die Idee: An sieben Orten finden nacheinander drei Konzerte statt, das Publikum stellt sich also aus 21 Angeboten ein musikalisches Menu zusammen. Die Vielfalt kommt gut an, die Funktion einer Festival-Ouvertüre wird durch diese Struktur ohnehin genial erfüllt: Die Programme eines erheblichen Teils der in den kommenden drei Wochen auftretenden gut 800 KünstlerInnen kann auf diese Art vorgekostet werden – ein veritables Festival im Festival.

Im burgähnlichen Gerichts-Innenhof hat sich „The Caribbean Jazz Project“ aufgebaut, eine Crossover-Formation mit Paqito D’Rivera – der kubanische Saxophonist ist einer der Festival-Stammgäste. Die Rhythmusgruppe muss sich in der leicht blechernen Akustik ein wenig zurechtrumpeln, glücklich also, wer einen Platz auf Höhe des „Parkplatz Beweisstelle“ und nicht weiter hinten im langgestreckten Hof ergattert hat. Dann aber lassen die Soli der Frontplayer keine Wünsche offen.

Kontrastprogramm in der hochgotischen Rathaushalle: Unter den von der Decke baumelnden Viermastern spielt das Hamburger „Elbipolis“-Ensemble „Musik der Pfeffersäcke“, will heißen Telemann et al. Recht brav das Ganze, zumal, wenn man bei einer Tafelmusik nichts zu tafeln vor sich hat. Funktionsmusik anderen Kalibers bietet einen Steinwurf weiter das „Vocalconsort Berlin“: Liturgisches von Byrd bis Bach. Selbst die Kulturstaatsrätin, die seit Jahren dafür plädiert, das Musikfest nur alle zwei Jahre stattfinden zu lassen, wirkt wie gebannt. Nur bei Bachs „Jesu, meine Freude“ überschätzt Dirigent Klaus-Martin Bresgott die Kapazitäten des durch viele Seitenschiffe und Emporen akustisch heterogenen Raumes – sorry, so ein Tempo kann unser Dom leider nicht, ohne Brei zu servieren.

Jenseits aller musikalischen Feinheiten ist der Musikfestauftakt das Flanier-Ereignis der Bremer Gesellschaft. Zwischen den Konzert-Locations wogt das betuchte Bürgertum, die Stimmung ist bestens. Da stören auch keine enttäuschten „Eintracht“-Fans, die nach ihrer Klatsche vom Stadion zum Marktplatz gezogen sind. 2006 wurde kurzfristig die hiesige „Vision Parade“ verlegt, um keinen clash of cultures zu riskieren. Dies Jahr hat sich das Problem mangels rave-interessierter Massen von allein erledigt, und die Fußballbummler lassen sich brav von der aufwendig inszenierten Lichtshow rund um den Markt beeindrucken. Zahlreiche Spots zeichnen farbige Linien zu architektonischen Details, zum Glück hat Lichtdesigner Christian Weißkircher diesmal auf allzu bombastische Effekte seiner Schweinwerfer-Batterien verzichtet – angenehmes Mikado-Chaos statt Albert Speer.

Ein Drittel der Musikfest-Konzerte findet außerhalb Bremens statt. Dieses Jahr wird sogar Spiekeroog eingemeindet: Das beschauliche Eiland ist ohnehin so etwas wie die Bremer Hausinsel, insbesondere der Bremer Großreeder Nils Stolberg („Beluga“) sichert sich mit dem „Musikfest“-Label Aufmerksamkeit für sein neu gegründetes „Künstlerhaus“.

HENNING BLEYL

Infos: www.musikfest-bremen.de