Zerrbild von zuhause

Was sehe ich, wo schlafe und wo esse ich, wenn der „Lonely Planet“, die Bibel unter den Reiseführern, mich durch Berlin führt? Wenn ich für eine Nacht und einen Tag Tourist in der eigenen Stadt bin? Ein Selbstversuch, der nicht nur ins White Trash führt

„Schätzchen, ich bin mit meiner Freundin hier. War aber schön, dich zu küssen“

VON JENS FRIEBE

Ist man in einer fremden Stadt zu Besuch und verfügt über nichts als die gängige Touristenliteratur, hat man oft dieses Gefühl, das Baby Schimmerlos in Kir Royal mal seinem Partner gegenüber so beschrieb: „Ich glaube, hier läuft was ganz schwer an uns vorbei.“ Was aber wäre, so die Frage, die diesen Selbstversuch hier stiftet, wenn man seine eigene Stadt bereist, sich dumm stellt und sein nächtliches Geschick in die Hand des „Lonely Planet“ legt? Auf los geht’s los.

1. Wahl des Stadtviertels: Der Lonely Planet (L. P.) informiert den Leser recht unparteiisch über die Stadviertel und stellt keine Hipness-Hierarchie auf. Als Unwissender würde ich wohl „Mitte“ wählen, weil „Mitte“ halt so klingt, als wäre es mittendrin.

2. Übernachtung: Ich wähle das „Baxpax“ in der Ziegelstraße aus, weil es angeblich einen Pool haben soll (den ich zwar nicht zu benutzen plane, der aber auf den Eifer der Hoteliers schließen lässt). Als ich ankomme, wird Mailand gegen Sevilla auf Großleinwand gezeigt. Alle reden Englisch, bis auf einen Schwaben und einen Österreicher, mit denen ich über Fußball und Nazis ins Gespräch komme. Gebe bald meine Scheinidentität als Kölner auf und trinke viel Wein, der besser ist, als man es von einer Jugendherbergsbar erwarten darf. Hunger.

3. „Honigmond“. Ich suche eine Gaststätte aus, die Berlinkolorit verspricht. L. P. schreibt, früher sei hier oft ein Klavier eingekehrt und in der Ecke stehe, alt und verstimmt, Nina Hagen. Oder umgekehrt. Esse okay in unspektakulärer Ostalgie.

4. „Mudd Club“, der L. P. verspricht einen Mix aus Berliner Underground und slawischen Acts. Das würde mich, stelle ich mir vor, als ortstypisch interessieren. Jugendliche chillen vorm Eingang und telefonieren miteinander. Drinnen läuft Balkan-Pop. Slawen und slawophile Deutsche flippen freundlich aus zu einer serbischen Coversion von „Rock the Casbah“. Anja, eine Informantin, sagt: „Ich liebe diese Musik. Früher konnte man mich in die Disco stellen und nichts ist passiert.“ Anja stellt sich extra steif hin, um ihre frühere Körperlosigkeit zu illustrieren. „Aber als ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal Balkan-Pop hörte, musste ich mich einfach bewegen.“ Auch ich bewege mich bald wieder gut gelaunt weiter.

5. „White Trash“: Kein Tourist kommt drum rum, auch ich nicht, und so schneidet sich der Parcours des Experiments mit meiner normalen Lebenswelt. Ein befreundetes Mandolinenorchester spielt, überall grüßt es und sagt meinen Namen. Trotz aller Aufgehobenheit ahne ich, dass mir als echter Reisender grad hier der Neppverdacht käme. Eine Stripperin tritt auf, durch ihren angepunktes Äußeres grüßt von sehr fern Postfeminismus, den johlenden Engländern ist es grad recht. Im Übrigen würden die böhmischen Mandolinenklänge der Kapajkos mich (Mudd Club im Hinterkopf) sicherlich den osteuropäischen Einfluss auf die Berliner Subkultur leicht überschätzen lassen.

6. „Schwuz“: Nahezu jedes Kapitel im L. P. weist auf unseren schwulen Bürgermeister hin und die große Bedeutung schwulen Lebens. Die einschlägigen Tipps für Mitte klingen aber doof, deshalb der Ausflug an den Mehringdamm. Ich gerate in eine der zwei monatlichen Lesbenpartys. Beim Gang die Steintreppe hinab dringt 90er-Indie zu mir hoch. „Ich will nicht wieder zurück nach Lüdenscheid“, denke ich, unten angekommen, schwindet die Angst. Gerade der dörfliche Rahmen lässt die Utopie mit aller Macht strahlen. Das hypervertraute „Killing in the Name of“, zu dem sich nicht die üblichen Typen, sondern junge entfesselte Mädchen ermächtigen, wirkt unmittelbar berauschend. Die Normalität verliert durch simple Spiegelung an der Genderachse sofort ihre Sterbensödnis. Selbst für mich überraschend. Apropos ich. Ich bin als einer von drei Männern nicht etwa Opfer androphoben Misstrauens, sondern wärmstens willkommen. Eine Grungerin prostet mir mit einem Weizenglas zu, eine andere steckt mir sogar die Zunge in den Mund. „Schätzchen, ich bin leider mit meiner Freundin hier. War aber schön, dich zu küssen“, verabschiedet sie sich und mich. Ich gehe ungern, glaube aber, noch einiges vorzuhaben.

7. „Delicious Doughnuts“: „Hier zeigt sich das Nachtleben Mittes von seiner besten Seite“, heißt es. Natürlich schöpft meine ortskundige Seite stark Verdacht, aber die hat ja heute nichts zu melden. Mein Gott, was für ein Downer nach dem Schwuz. Wenige müde, böse Pärchen. Leer, kalt, krank, dunkel. So war das Delicious Doghnuts. Ich hatte mir einen kurzen Schlaf im Baxpax verdient.

8. Frühstück: Beim Frühstück hat der vegetarische Gast die Wahl zwischen sieben einander rasend ähnlichen Käsesorten sowie deren Paprikadekoration.

9. Stadtrundfahrt: Nicke immer wieder ein und ein altes Vorurteil erhärtet sich: Sosehr sich Städte unterscheiden, so sehr ähneln sich Stadtrundfahrten. Im Kopfhörer hört man eine Frau mit der Stimme Brigitte Miras (oder Brigitte Mira selbst) unter anderem diesen Satz sagen: „Es ist diese Mischung aus Wohnen, Gastronomie und Handel, die den Flair des Ku’damms prägen.“ Ha, da habe ich auch noch einen: „Es ist die Mischung aus Haaren, Atmen und Pinkeln, die Lassie zum ‚berühmtesten Hund der Welt‘ macht.“

10. Bilanz: unterm Strich positiv. Ich würde Berlin als Tourist für slawischer, schwuler, freundlicher, ästhetisch aber weiter hintendran halten, als ich es in Wirklichkeit tue.