Würfelförmige Gebilde

AMORPH „Rapport: Experimentelle Raumstrukturen“, eine Ausstellung von J. Mayer H. in der Berlinischen Galerie

Die Auskleidung der großen Halle deutet das Neue dieser Architekturauffassung zumindest an

VON RONALD BERG

In der Berlinischen Galerie wandelt man neuerdings auf Teppichboden. Die großen schwarzweißen Muster der Auslegeware bedecken nicht nur den Boden der zehn Meter hohen Ausstellungshalle, sondern ziehen sich auch die Wände hoch. Die „experimentellen Raumstrukturen“ stammen vom Architekturbüro J. Mayer H., 1996 in Berlin gegründet. Chef und Namensgeber, der 46 Jahre alte Jürgen Mayer H., arbeitet an den „Schnittstellen von Architektur, Kommunikationsdesign und Neuen Technologien“, wie er sagt. Wegen seines spektakulären „Metropol Parasol“ dürfte J. Mayer H. derzeit in Sevilla noch bekannter sein als in Berlin. Der einen Stadtplatz überwölbende „Sonnenschirm“ aus einer wellig-fließenden Holzstruktur schafft Identität und dient als Imagefaktor: ein Bilbao-Effekt à la Sevilla, könnte man sagen. Hierzulande ist das mit Preisen überhäufte Büro besonders mit der Mensa für die Uni in Karlsruhe aufgefallen. Deren unregelmäßige, das ganze Gebäude durchziehende Gitterstruktur hat gewisse Affinitäten zur aktuellen Ausstellung.

Schaut man sich die scheinbar amorphen Muster aus einiger Entfernung etwas genauer an, erkennt man etwas Bekanntes: Es handelt sich um ein Datenschutzmuster aus übereinander gedruckten Zahlen und Buchstaben, wie es auf Innenseiten von Briefumschlägen für Rechnungen und Kontoauszügen ins Haus kommt. Funktion und Anwendungsgebiete der Datenschutzmuster liefern Jürgen Mayer H. Stoff für seine metaphorische Lesart: Der Buchstabensalat thematisiere die Ambivalenz von offen und verborgen, privat und öffentlich oder zwischen innen und außen. Diese vermeintlichen Differenzen werden auch in der gebauten Architektur von J. Mayer H. in Frage gestellt und neu interpretiert.

Die Auskleidung der großen Halle deutet das Neue dieser Architekturauffassung zumindest an. Dass Wand und Boden austauschbar werden, dass man die ganze Halle auf die Seite kippen oder auf den Kopf stellen könnte, dieser durch das Muster insinuierte Akt passiert allerdings vorläufig nur im Kopf. Der Titel „Rapport“ für die Installation fungiert als Einladung zu einem solchen Gedankenspiel. Denn Rapport meint bei Textilien die Anordnung gleicher Muster in steter Wiederholung. Damit bezeichnet der Rapport, auch wenn die Datenschutzmuster streng genommen gar nicht in diese Rubrik fallen, das Paradigma einer unhierarchisch sich ausbreitenden Struktur.

Dem wirklichen Bauen näher kommen vier skulptural anmutende Modelle in der Ausstellung. Es sind würfelförmige Gebilde mit einer Kantenlänge von 35 Zentimetern, allerdings ist ihr Volumen auf amorphe Art durchlöchert. Frontal von einer Seite betrachtet, erkennt man das schon bekannte Muster aus hintereinander liegenden Zahlen wieder. Wie bei der Steuerung der Vielnadelmaschine der Firma Vorwerk zum Tuften der vier Meter breiten Teppichbahnen für die Schau lieferte auch bei den Würfeln ein Datensatz die Anweisungen zum Bau der Modelle. Das Verfahren, womit feinste Strukturen aus Kunststoff möglich sind, nennt sich Lasersintern und kommt sonst in der Entwicklung bei der Autoindustrie zur Anwendung.

Im Grunde zeigen die löchrigen Modelle, obschon noch im Stadium skulpturaler Kunstwerke, zugleich auch die experimentelle Arbeitsmethode von Jürgen Mayer H. als Architekt. Aus der gedanklichen Entscheidung für eine unhierarchische Struktur und der formalen Spielerei mit deren Mustern entstehen feste, dreidimensionale Gebilde, die ebenso gut die Grundlage einer gebauten Architektur abgeben könnten. Die Schwierigkeit ist nur, das virtuelle Datenmaterial mit den Anforderungen an Materialbelastung, Statik, Wärmedämmung und sonstigen Bauvorschriften in Einklang zu bringen – und zwar so, dass es für den Bauherrn am Ende auch noch bezahlbar bleibt. Erstaunlicherweise gelingt das durchaus mit Erfolg. Eine Werkpräsentation von J. Mayer H. per Videomonitor macht das in der Schau deutlich. Manchmal erzwingt der Transfer vom Virtuellen ins reale Baugeschehen sogar innovative Lösungen und ganz neue Werkstoffe. So wurde beim Sevilla-Projekt der Einsatz eines eigens entwickelten Klebers für die Holzverbindungen nötig. Man könnte also im Falle von J. Mayer H. einmal umgekehrt sagen: Können kommt von Kunst.

■ Berlinische Galerie, Alte Jacobstr. 124–128, bis 9. April 2012