MIT WELCHEN OBJEKTEN UMGABEN SICH BERLINER UND BERLINERINNEN VOR 100 ODER 150 JAHREN? EIN KLEINER FEINER BAND GIBT AUFSCHLUSS
: Nippes zeigt den Wohlstand an

Berlin auf Blättern

VON JÖRG SUNDERMEIER

Vielen Berlinerinnen und Berlinern ist sie unbekannt, die Stiftung Stadtmuseum, unter deren Dach jedoch sehr bekannte Häuser versammelt sind – die Nicolai-Kirche, das Ephraim-Palais, das Knoblauch-Haus, das Museumsdorf Düppel und das Märkische Museum. In letzterem finden sich fantastische Exponate aus der Berliner Geschichte, besonders aus der Geschichte der Berliner Bevölkerung, aus dem Leben all jener, die zwar für Könige und „Führer“ ihren Kopf hinhalten mussten, die die in unserer geschichtsvergessenen Zeit noch immer so beliebten Schlösser errichteten oder putzten oder die in Friseursalons und Kolonialwarenläden ihre Taler verdienten.

So ist dort etwa das von Walter Benjamin besungene Orchestrion zu bewundern oder das von Fontane so geschätzte Fangballspiel, mit dem sich der Schriftsteller auch noch lange nach dem Ende seiner Kindheit vergnügte. Doch lagern die allermeisten Stücke der Museumssammlung im Depot, und solange dem Museum nicht endlich ein Haus für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zugestanden wird, wird das wohl auch so bleiben. Andere Stücke wiederum stehen im Schatten der großen, lauten und bunten, nach Aufmerksamkeit heischenden Exponate.

Deshalb ist es schön, dass der zur Stiftung gehörige Verlag M sich nun daran macht, auch diese Stücke sichtbar zu machen, indem er sie in kleinen, preiswerten, aber aufwändig gedruckten Büchern präsentiert. Peter Matuschek, Ines Quitsch und Silvia Thyzel etwa präsentierten auf den knapp hundert Seiten ihres „ABC Berliner Alltagsdinge“ viel „Nützliches aus vergangen Tagen“. Sie zeigen neben bekannteren Gegenständen wie dem Abwaschtisch, dem Zimmerklosett oder dem „stillen Portier“ auch ein Zoetrop (ein Gerät, mit dem bewegte Bilder erzeugt werden konnten), eine Wellenbadschaukel (einen „Universalbadeapparat“, in dem man während des Badens schaukeln, also Wellen erzeugen konnte) oder einen Kopierstift, der wie ein Bleistift aussieht, aber dank besonderer Farbstoffe das Kopieren der von ihm geschriebenen Dokumente ermöglicht.

Auch erklären die drei HerausgeberInnen des Bandes in kurzen, sehr informativen Texten die Nutzung und Herkunft der Gegenstände. So sehen wir etwa ein Notlicht, eine Kerze mit Halterung und Stahlstift zu Befestigung, die bequem in der Tasche zu tragen war und die auch „Studentenlicht“ genannt wurde, da viele Studenten diese Lichter nutzten, um nicht zusätzlich für die Beleuchtung ihrer Zimmer zahlen zu müssen. Oder man erfährt, woher der Ausdruck „mehrere Eisen im Feuer haben“ kommt: Die Ochsenzunge, eine Art frühes Bügeleisen, wurde von einem heißen Eisenbolzen, den man in das Gerät einlegte, erhitzt, und die kluge Büglerin hatte eben „mehrere Eisen im Feuer“, um ihr Pensum rasch erfüllen zu können.

Für Zeitungsleser und -leserinnen ist selbstverständlich auch der Journalhalter höchst interessant, ein Gebrauchsgegenstand, der zugleich dekorative Zwecke hatte. Man legte in dieser Apparatur, die einem Wimpel ähnelte und an der Wand hing, seine Zeitungen oder Magazine ab. Da man sie nicht unbedingt benötigte, waren diese Journalhalter wie viele andere heute verschwundene Objekte ein Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins, zu dem das Bürgertum nach und nach gelangte. Um den eigenen Wohlstand zu zeigen, deckte es sich mit Nippes ein.

Die heute ebenfalls vergessenen Alltagsgegenstände aus dem bäuerlichen und dem proletarischen Leben sind in diesem Bändchen etwas unterrepräsentiert, was aber auch damit zu erklären ist, dass das Märkische Museum zunächst ja eine Bürgerstiftung war und dass die Gegenstände aus verarmten Haushalten bis vor wenigen Jahren ungern gesammelt wurden, da sich auch die, die sie benutzen mussten, ihrer schämten.

■ Peter Matuschek, Ines Quitsch und Silvia Thyzel: „ABC Berliner Alltagsdinge“. Verlag M, Berlin 2014, 96 Seiten, 6,90 Euro

■ Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher-Verlags