Ordnung im Chaos

Die Welt ist in Unordnung. Das wurde in den vergangenen Tagen noch einmal auf drastische Weise deutlich. Man kann darüber verzweifeln – oder man bewahrt und verteidigt erst recht alles an Sinn, was man in ihr finden kann.

Auf eine recht abstrakte Sinnsuche begibt sich der Berliner Musiker Frank Bretschneider mit seinem Album „Sinn + Form“, das wohl nicht zufällig so ähnlich heißt wie eine Kulturzeitschrift, die von der Akademie der Künste herausgegeben wird. Bretschneider fand seine Sinnangebote in diesem Fall in der Mathematik und ließ sich von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Stochastik zu seinen elektronischen Prozeduren inspirieren, für die er zwei modulare Synthesizer verwendete.

Chaos in Strukturen überführen, lautet Bretschneiders musikalische Strategie. Dabei verwendet er per Zufallsprinzip erzeugte Klangdaten, die er anschließend mit mehr oder minder improvisierten Verfahren ordnet. Als weiterer theoretischer Überbau dient ihm die Idee des Chaos, das in freien Märkte entsteht. Ein Stück wie „The Machinery of Freedom“ etwa verdankt seinen Titel dem gleichnamigen anarchokapitalistischen Buch von David Friedman, das im Untertiel „Guide to a Radical Capitalism“ heißt.

Noch offensichtlicher ist die Anspielung in „Free Market“. Bretschneider versteht „Sinn + Form“ denn auch als Reaktion auf eine komplexe Welt, die in einem Zustand der permanenten Krise ist. Gemessen an seinen anderen Alben, die sich mehrheitlich auf die Arbeit am gefriergetrockneten Groove unter Zuhilfenahme von Rauschen und Störfrequenzen konzentrieren, entfaltet sich diesmal ein Raum von scheinbar ungebändigter Offenheit. Eine etwas andere, durchaus reizvolle Seite des gestrengen Bretschneider.

Auf ihre Weise suchen ebenso Marion Wörle und Maciei Sledziecki nach Ordnung im Ungeordneten. Allerdings bedienen sie sich dazu nicht elektronischer, sondern rein akustischer Klänge. Bloß gesteuert werden ihre Geräte per Computer. Gamut Inc. nennen die beiden Wahlberliner ihr Projekt, für das sie Musikautomaten entworfen haben, die zum Teil auf Vorlagen aus früheren Jahrhunderten beruhen. Monochorde, Glockenspiele und Akkordeons bilden auf ihrer Platte „ex machina“ den Kern des Instrumentariums. Das klingt im Ergebnis eher nach elektronischer als nach „alter“ Musik: Es schabt und kratzt und pfeift fast außerirdisch.

TIM CASPAR BOEHME

■ Frank Bretschneider: „Sinn + Form“ (Raster-Noton)

■ Gamut Inc.: „ex machina“ (Bólt/Satelita/Monotype), Release-Konzert 15. 1., NK