Gott ist eine adaptive Illusion

GLAUBE Der Evolutionspsychologe Jesse Bering erklärt die menschliche Vorstellung des Göttlichen als Nebenprodukt der Evolution

Wie enervierend das sein muss, immer wieder gegen diese Kreationisten Stellung beziehen zu müssen

Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“, zitiert Jesse Bering gegen Ende seines Buchs Voltaire, um ergänzend hinzuzufügen, jener habe es ja nicht besser wissen können. Denn in heutigen Zeiten, da wir permanent umgeben seien von unsichtbaren Kameras, Nacktscannern und anderen Überwachungsgeräten, bedürfe es im Grunde einer übergeordneten, beobachtenden Instanz nicht mehr, damit der Mensch sich bemühe, gut zu sein. Die allgegenwärtige Überwachung sorge ohnehin dafür, dass wir uns ständig beobachtet fühlen.

Das ist ein etwas merkwürdiges Argument, auf das man vielleicht recht natürlicherweise kommt, wenn man ein in Belfast wohnender US-Bürger ist. Lebt man dagegen in einem Land, das noch nicht flächendeckend mit Überwachungskameras ausgerüstet ist, tut man sich schwerer mit einer solchen Argumentation, die den kategorischen Imperativ als einer im mündigen Menschen gewachsenen moralischen Instanz abgelöst sieht zugunsten einer technisch gesteuerten sozialen Kontrolle. Aber Jesse Bering ist Evolutionspsychologe; Ethik fällt nicht in sein Gebiet.

Mein Freund, der Ballon

Bering sieht den Menschen nüchtern als das Tier, das er nach Jahrmillionen der Evolution immer noch ist. Das Tier, das unterhalb der Wirbelsäule einen lustigen beweglichen Knochenfortsatz als Erinnerung an sein einstiges Schwänzchen mit sich herumträgt und das auch in seinem Triebleben so manchen unerwünschten Instinkt mitbringt, der im kulturell überformten sozialen Miteinander unterdrückt werden muss. Was den Menschen jedoch von allen anderen Hominiden grundlegend unterscheidet, ist zum einen die Sprache, zum anderen die Fähigkeit zur „Mentalisierung“ („Theory of Mind“), also der Zuschreibung von mentalen Zuständen bei anderen Individuen.

Die Mentalisierung macht vor nichts halt und wird vom immer tätigen menschlichen Geist auch auf unbelebte Gegenstände angewandt. Bering bringt dafür das schöne Beispiel des Films „Der rote Ballon“, in dem der beste Freund eines kleinen Jungen ein Ballon ist. Der Hauptdarsteller hat sich später in einem Interview dazu bekannt, daran tatsächlich geglaubt zu haben. Dreht man die Mentalisierungsschraube noch ein klein wenig weiter, landet man bald beim Metaphysischen.

Das menschliche Bedürfnis, für alles nach Erklärungen und Absichten zu suchen, führt fast zwangsläufig zur Annahme der Existenz jener „allergrößten Psyche“. Die Mentalisierung nämlich, so Bering, arbeite auch ganz ohne unseren Willen in uns. Die Vorstellung, dass es Gott gibt, sei demnach „ein untrennbarer Teil unseres natürlichen kognitiven Systems“ oder, anders ausgedrückt, „eine Art evolutionär entstandener Fehler“. Berings Argumentation zu folgen fällt nicht schwer. Sie ist einleuchtend und bleibt dennoch etwas unbefriedigend.

Denn dass wir nicht anders können – auch die Atheisten unter uns –, als instinktiv nach übernatürlichen Erklärungen zu suchen, wenn etwa Dinge geschehen, die unser Leben aus der Bahn werfen, mag durch unsere Fähigkeit zur Mentalisierung überhaupt erst möglich werden. Doch dass wir diese Fähigkeit haben, ist ja weder ein Beweis für noch gegen die Existenz einer „größten Psyche“.

Das weiß natürlich auch der Autor, der das Institute of Cognition and Culture an der Queen’s University in Belfast leitet. Egal ob es um den Beweis der Existenz des Göttlichen oder um den Beweis seiner Nichtexistenz geht – wir können ihn nicht wirklich führen. Dabei sachlich zu bleiben, ist im angloamerikanischen Wissenschaftsraum durch den dauerschwelenden Kreationisten-Evolutionisten-Streit recht schwierig. Und so gerät auch Jesse Berings insgesamt fesselnd vorgetragene Argumentation zum Ende hin immer polemischer. Für alteuropäische Leser ist das ein wenig so, als stünde man daneben, wenn zwei andere sich streiten. Wie unglaublich enervierend es doch sein muss, immer wieder gegen diese Kreationisten Stellung beziehen zu müssen. KATHARINA GRANZIN

Jesse Bering: „Die Erfindung Gottes. Wie die Evolution den Glauben schuf“. Aus dem Englischen von Helmut Reuter. Piper Verlag, München 2011, 320 Seiten, 19,99 Euro