Wofür man grüne Frauen braucht

IDENTITÄT Ungewiss ist das eigene Selbst und schwer zu fixieren: die Schriftstellerin Marie NDiaye und ihr „Selbstporträt in Grün“

Wie kreieren wir aus unseren Erfahrungen das, was wir als unser Leben begreifen?

Wie sich aus dem Selbstverständlichen heraus Seltsames entwickle, das reize sie sehr, so die 44-jährige französische Schriftstellerin Marie NDiaye in einem Interview. Aus dem, was gewiss scheint, wachsen dann Verunsicherung, Zweifel. In ihren Buch „Selbstporträt in Grün“ stellt sie dieses Motiv ins Zentrum ihres Erzählens.

Marie NDiaye, Tochter einer Französin und eines senegalesischen Vaters, hat das Entgleiten aller Gewissheiten bereits in ihrem Roman „Mein Herz in der Enge“ thematisiert: Ein bislang geachtetes Lehrerehepaar wird hier plötzlich und scheinbar grundlos von Kollegen und Nachbarn angefeindet. Einem größeren deutschen Publikum wurde die Autorin im vergangenen Jahr durch ihren Roman „Drei starke Frauen“ bekannt, für den sie in Frankreich den renommierten Prix Goncourt erhielt. 2009 war die Preisverleihung, im gleichen Jahr verließ sie aus Protest gegen die Politik Sarkozys das Land Richtung Berlin, wo sie seither mit ihrem Mann und drei Kindern lebt.

„Selbstporträt in Grün“ erschien im Original bereits 2005. Was aber der Titel verspricht, wird von Marie NDiaye unterlaufen: Wie ungewiss das eigene Selbst ist und wie schwerlich festzuschreiben – das umkreist sie auf beeindruckende Weise.

Die Icherzählerin lebt mit Mann und Kindern in einem kleinen französischen Ort. Eines Tages erkennt sie ihre Freundinnen nicht mehr wieder. Kurz darauf sieht sie auf der täglichen Fahrt ihrer Kinder zur Schule eine grün gekleidete Frau unter einer Bananenstaude. Ist sie real? Die Kinder können niemanden entdecken, sie selbst ist bald von ihrer Gegenwart überzeugt. Eine Atmosphäre der Rätselhaftigkeit greift sich Raum, die umso verstörender ist, als dass sich das Unfassbare im Rahmen des Alltäglichen abspielt und davon im gleichen Ton des Selbstverständlichen erzählt wird.

Bei der grünen Frau unter der Bananenstaude bleibt es nicht. Als die Erzählerin mit einem völlig veränderten Lebenswandel der Mutter konfrontiert wird, die Frau, über die doch alles bereits feststand, geht ihr auf, „dass meine Mutter eine grüne Frau ist […] was ist das nur für ein böser Zauber, frage ich mich, der diesmal verlangt, dass meine eigene Mutter mir als grüne Frau begegnet?“

Auch die frühere beste Freundin, die dann den Vater der Erzählerin heiratete, ist eine grüne Frau geworden. Sie hat die Freundschaft der Frauen zugunsten der Beziehung zum Vater aufgegeben. Das sind die greifbaren Konflikte und Gefühle, die NDiaye sehr feinfühlig beschreibt, oft in Bezug auf familiäre Konstellationen.

Die Autorin verknüpft Erlebnisse, Gedanken, Gefühle ihrer Protagonistin in Bezug auf diese existenziellen Fragen: Wie funktioniert unsere Wahrnehmung? Was entspringt darin unseren Vermutungen, Wünschen, Hoffnungen? Was unseren Erfahrungen, den Spuren, die dadurch in uns gelegt sind? Wie kreieren wir daraus das, was wir als unser Leben begreifen? Unsere Identität.

Das Motiv der grünen Frau ist dabei der Leitfaden. Wie NDiaye damit arbeitet, zeigt auf beeindruckende Weise ihre eigentümliche und poetische Gratwanderung zwischen konkretem und verrätseltem Erzählen. Denn einerseits sind die Konflikte, die die grünen Frauen verkörpern, sehr real, wenn sie im Bezug zur Mutter, zur Freundin, zum Vater stehen. Darüber hinaus bleiben die grünen Frauen aber schillernd: Sie stehen für kaum selbst gewusste Fragen oder Widersprüche der Icherzählerin, sind zugleich Pfeiler und Verunsicherungen ihrer Biografie.

„Ich habe Angst, mich selbst als verrückt ansehen zu müssen, wenn all diese Frauen in Grün eine nach der anderen verschwänden und mich ohne jede Möglichkeit zurückließen, ihre Existenz und damit meine Originalität zu beweisen.“ Ohne deren „vieldeutige Gestalt im Hintergrund“ würde der Erzählerin „die Rauheit des Lebens Haut und Fleisch abschürfen bis auf den Knochen“.

Es ist diese schöne, klare und doch bildhafte Sprache, in der Marie NDiaye in ihrem „Selbstporträt in Grün“ von der Unmöglichkeit einer Fixierung des Selbst erzählt – und doch eine „Originalität“ behauptet. Denn in ihren Reaktionen auf die sie umgebenden Menschen, im Umgang mit ihren „grünen Frauen“ wird die Erzählerin sichtbar. Und es ist diese Sprache, die existenzielle Fragen in ihren Erzählfluss mitnimmt, aufnimmt, sie scheinbar leichter werden lässt und doch kein Stück ihrer Komplexität preisgibt. CAROLA EBELING

Marie NDiaye: „Selbstporträt in Grün“. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2011, 122 S., 18 Euro