Ballern, als gäbe es kein Morgen

Der HSV hängt sich durch ein fulminantes 42 : 27 gegen den TV Großwallstadt in der Handball-Bundesliga an die Fersen des Meisters THW Kiel. Der Kampf um den Titel wird im Norden vom ersten Spieltag an auch übers Torverhältnis geführt

Rechts von ihm hingen vier, links an der Wand noch einmal drei, am Pfeiler vor ihm ein weiteres, und, ach ja, etwas weiter hinten, an der Stirnseite des Raumes neben der Tür, noch zwei Plakate. Alle zeigten ein und dasselbe Motiv – skizzenhaft gezeichnete Spieler des HSV Handball in Wurfsituationen, die Spielplandaten und darunter den Schriftzug „Die Saison der Vergeltung“. Als sich Michael Roth, Trainer des Handball-Bundesligisten TV Großwallstadt, nach dem 27 : 42-Debakel seiner Mannschaft beim HSV im ansonsten kargen Pressekonferenzraum der Hamburger Arena umblickte und von allen Seiten dieser Slogan auf ihn eindrang, dürfte er sich endgültig als unschuldiges Opfer gefühlt haben. Warum Vergeltung? Warum er? Und, verflucht noch mal, warum schon wieder?

Roth sah traurig aus, angeschlagen und abwesend. Er machte beinahe den Eindruck, als habe er sich innerlich gerade auf Jobsuche begeben. Sein Beruf hatte innerhalb einer Woche enorm viel von seiner Faszination verloren. Schuld daran hatte der Spielplangestalter der Handball-Bundesliga. Der hatte seinem TV Großwallstadt in direkter Folge den THW Kiel und den HSV Handball als Gegner beschert.

Am vergangenen Wochenende kam der Traditionsklub aus Unterfranken gegen Kiel in heimischer Halle mit 26 : 40 unter die Räder. In Hamburg folgte jetzt sogar eine Niederlage mit 15 Toren Differenz. Schon nach dem Spiel gegen Kiel hatte Roth deutlich gemacht, dass ihm die Kluft zwischen den Spitzenteams und dem Rest der Bundesliga zu groß geworden ist. „Wir sind vorgeführt worden“, hatte Roth gesagt. „Dieser THW ist einfach eine andere Liga. Es macht keinen Spaß mehr gegen Kiel zu spielen.“

Nach dem Debakel in Hamburg klang alles ganz ähnlich. „Wir hatten gehofft, dass wir mit einem besseren Gefühl nach Hause fahren würden“, sagte Roth. „Gut, nach Hause fahren wir jetzt auf jeden Fall, aber das Gefühl ist nicht besser als vor einer Woche.“ Mit leidender Stimme fügte er hinzu: „Kiel und Hamburg haben an Qualität zugelegt. Ich bin froh, dass wir erst im Januar wieder auf sie treffen.“

Großwallstadt und zuvor auch die MT Melsungen dürften nur die ersten Opfer der beiden Meisterschaftsfavoriten aus dem Norden gewesen sein. In der vergangenen Saison hatte lediglich das bessere Torverhältnis den Ausschlag zugunsten der Kieler gegeben. Das wissen sie beim THW und beim HSV natürlich noch ganz genau, und darum drücken die Spieler schon zu Beginn der Saison in jeder Partie derart aufs Tempo und schießen aus allen Rohren, als gäbe es kein Morgen mehr. Leidtragende sind Mittelklasse-Teams wie eben Melsungen oder sogar der TV Großwallstadt, der immerhin für den Europapokal qualifiziert ist.

Welch schlimme Zeiten jenen Vereinen drohen könnten, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um sich solche Starensembles wie in Kiel oder Hamburg zu leisten, deutete HSV-Trainer Martin Schwalb nach dem Sieg gegen Großwallstadt ungewollt an: „In der zweiten Halbzeit haben wir uns die Seele freigespielt. Wir haben aber nur zwei Drittel von dem umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten“, sagte Schwalb. Nur zwei Drittel? Kieler und Hamburger Siege mit 20 Toren Unterschied dürften also nur noch eine Frage der Zeit sein.

CHRISTIAN GÖRTZEN