Griff in die Mottenkiste

Zur Spielzeiteröffnung hat der junge Regisseur Daniel Wahl auf der großen Bühne des Hamburger Schauspielhauses William Goldings „Herr der Fliegen“ inszeniert. Eine Schüleraufführung, deren Qualität für die restliche Spielzeit Übles erahnen lässt

Ein notwendiges, durchaus ehrbares Schülerprojekt, das man aber lieber in einer Schulaula gesehen hätte

VON PETRA SCHELLEN

Nein, dieses Stück war damals in Großbritannien nicht sehr beliebt. Schon deshalb nicht, weil William Golding 1954 im „Herrn der Fliegen“ die angeblich so brave englische Jugend diskreditierte und Zivilisation als de facto unmöglich beschrieb. Eine Lösung für das Problem hatte er allerdings auch nicht: Als ratloser Zuschauer zeichnet er in dem Roman eine sich rasant archaisierende Gesellschaft, zusammengesetzt aus eigentlich harmlosen Kindern und Jugendlichen. Ein Pessimismus, den man durchaus teilen kann angesichts aktueller Amokläufe und Erpressungen unter Schülern. Ein Pessimismus, den man aber auch bekämpfen kann – etwa durch ein Projekt mit Jugendlichen, die diesen Stoff spielen.

Ob es aber dringend nötig ist, die Resultate eines solchen Projekts ausgerechnet zur Spielzeiteröffnung im Hamburger Schauspielhaus – dem größten deutschen Sprechtheater – zu zeigen, sei dahingestellt. Denn erstens sind solche Projekte nicht neu. Sogar Royston Maldoom, berühmt seit „Rhythm is it“, gastiert inzwischen regelmäßig in Hamburg und praktiziert die Therapierung von Schülern durch Tanz sehr professionell. Zweitens ist Daniel Wahls Schülerprojekt kaum mehr als eine gut gemeinte, durchaus ehrbare soziale Aktion: 60 Schüler aus 24 Schulen verschiedenster Typen hat Wahl zusammengebracht, damit sie sich quasi live auf der Bühne verbrüdern und das Gegenteil von dem tun, was sie spielen.

Wer ein solches Event plant, hat aber wohl vergessen, dass Spielzeiteröffnungen immer auch programmatisch sind. Angesichts dessen ein Stück zu zeigen, das sich nicht entscheiden kann, ob es Musical, Hip-Hop-Event oder Turnstunde mit Sprech-Einlagen ist, wirkt nicht besonders geschickt.

Sicher, auch unter Schülern finden sich gelegentlich echte Talente. Und die kreativ motivierbare Jugend unserer Tage muss ihre Chance bekommen, keine Frage. Was aber am Sonntag im Schauspielhaus zu sehen war, hätte eher in eine Schulaula gehört. Denn selbst wenn einzelne Schüler ein Sprechtraining genossen haben sollten: Zu hören war davon wenig. Da wurde genuschelt, hastig und leise, teils sogar vom Publikum weggesprochen, als rede man en passant auf dem Pausenhof. Das ist natürlich nicht den Schülern anzulasten, sondern einzig dem Regisseur.

Hektik scheint ein weiteres Credo des Regisseurs gewesen zu sein: Chaotisches Über-die-Bühne-Gerenne nahm einen großen Teil der Zeit in Anspruch – überflüssigerweise, denn die äffische Urwald-Atmosphäre hatte man schnell verstanden. Und dann die Handlung: Ja, die Verrohung der Jugendlichen, die sich auf einsamer Insel selbst organisieren müssen, wird deutlich. Mehr aber auch nicht: Die Chance, die ein solches Stück bietet – nämlich psychologisch fein Gruppendynamik nachzuzeichnen und nicht einfach Zustände nebeneinander zu setzen; oder zu ergründen, warum die Meute zur brutalen Anführerin überläuft – diese Chance hat der Regisseur nicht genutzt.

Im Gegenteil: Fast lapidar hat er – stets auf choreographische Show-Effekte bedacht – kurze, flache Dialoge zwischen die Bewegungs-Szenen gesetzt. Er wollte offensichtlich keine reflektierte, sondern eine mit dem Grauen operierende Inszenierung, bei der im Hintergrund ein schauriger Schweinskopf auf der Bühne baumelt.

Brechungen erfolgen im Übrigen kaum: Begreift das Zwillingspärchen wirklich, dass es sich selbst persifliert? Ist das vom Regisseur als Vorführ-Effekt einkalkuliert? Man weiß es nicht. Vielleicht hätte er, um der Inszenierung Pfiff zu verleihen, die Schüler mehr improvisieren lassen sollen: Sehr kurz blitzt realer sozialer Sprengstoff auf, wenn die russischen Schüler untereinander flüstern und die anderen schreien „Sprecht deutsch!“. Hätte der Regisseur mehr Bezüge zum Alltag der jungen Akteure hineingebracht – vielleicht hätte das Stück gelingen können. Er hat es nicht gewagt.

Herausgekommen ist jedenfalls eine Inszenierung mit so wenig Kontur, dass man bezüglich der kommenden Spielzeit ganz ängstlich wird. Denn das konzeptionelle Defizit dieser Inszenierung scheint durchaus vorauszuweisen auf den Spielplan dieser Saison: Wie man es auch wendet, man erkennt keine plausible Dramaturgie, wenn man Stücke wie Kleists „Hermannsschlacht“ und Lessings „Minna von Barnhelm“ neben Mankells „Lampedusa“ und Otfried Peußlers „Krabat“ sieht. Ein Kinder- und Jugendstück auf der großen Bühne ist zudem am Deutschen Schauspielhaus gar nicht nötig, existiert dort doch das „Junge Schauspielhaus“. Und die von Klaus Schumacher geleitete Sparte läuft – als einzige derzeit am Deutschen Schauspielhaus – gut.

Warum also weitere Kinderstücke auf die Hauptbühne zerren? Weil man um andere Lösungen verlegen ist? Oder möchte man sich als sozial und jugendfreundlich profilieren, um doch noch des Publikums Sympathien zu gewinnen, das bereits zum Thalia Theater abwandert, das jetzt zum zweiten Mal Theater des Jahres wurde?

Möglich – aber vielleicht gab es da noch eine andere Idee: die, möglichst Sinnliches, Effektvolles, das berühmte „Große Kino“ zu bieten. Ab Dezember stehen Stoffe wie Boccaccios „Decamerone“, die Freuden des Lebens besingend, Ibsens „Nordische Heerfahrt“, ein kaum bekanntes Wikingerdrama, sowie Dumas’ „Kameliendame“ auf dem Programm. Allesamt Stücke, die auf deutschen Bühnen nicht gerade oft gespielt werden. Und wenn, dann eher auf mittelgroßen. Was zunächst natürlich nichts besagt, wird man doch oft gerade in der Peripherie fündig. Die Stückauswahl dieses Spielplans aber wirkt eher wie der hilflose Versuch, endlich die Mentalität der Hamburger zu begreifen, nachdem es mit dem „Zugereisten“-Bonus des seit Herbst 2005 amtierenden Intendanten Friedrich Schirmer nicht recht funktioniert hat.

Sicher, unter den Regisseuren findet sich ein Roger Vontobel, Nachwuchsregisseur des Jahres 2006. Außerdem der bewährte Jürgen Gosch sowie der bereits auf der Hamburger Experimentierbühne Kampnagel und an der Staatsoper erfolgreiche Andreas Bode mit Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“.

Abgesehen davon aber zeigt die Regisseurauswahl so wenig Kontur wie die der Stücke. Und manches Stück versank völlig zu Recht in der Mottenkiste, aus der sich allenfalls noch zweitklassige Theater bedienen. Der „Herr der Fliegen“ ist so eins.