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Archiv-Artikel

Danach

FRANKREICH Nach den Morden sucht ein Zeichner einen neuen Titel für „Charlie Hebdo“. Der Autor Tahar Ben Jelloun glaubt, Muslime müssten teuer bezahlen. Eine Frau in Nizza spürt das. Beobachtungen in einem verwundeten Land

Eine Woche Charlie

■ Mittwoch, 7. Januar: Zwei Brüder stürmen die Redaktion von Charlie Hebdo und feuern 31 Kugeln ab. 12 Menschen sterben.

■ Donnerstag, 8. Januar: 88.000 Polizisten und 1.150 Soldaten jagen die Attentäter.

■ Freitag, 9. Januar: Die Polizei tötet bei der Befreiung von Geiseln die Brüder. Auch ein anderer Attentäter, der einen jüdischen Supermarkt überfallen hat, stirbt. Die Arbeit an der neuen Ausgabe von Charlie Hebdo beginnt.

■ Samstag, 10. Januar: #Jesuischarlie

■ Sonntag, 11. Januar: „Paris ist heute die Hauptstadt der Welt“, sagt der französische Präsident François Hollande bei der größten Demonstration Frankreichs.

■ Montag, 12. Januar: Das Weiße Haus entschuldigt sich für das Fehlen eines hochrangigen Regierungsvertreters in Paris.

■ Dienstag, 13. Januar: Frankreichs Parlament diskutiert über Antiterrorgesetze.

■ Mittwoch, 14. Januar: Die ersten 700.000 Exemplare der neuen Ausgabe von Charlie Hebdo sind sofort ausverkauft.

AUS PARIS, NIZZA, ROTTERDAM UND BERLIN SABINE SEIFERT, ANNIKA JOERES, TOBIAS MÜLLER, JOHANNES GERNERT UND ASTRID GEISLER

Am Vormittag des 9. Januar geht Rénald Luzier zur Arbeit. Luzier, der zwei Tage zuvor 43 Jahre alt geworden ist, hängt seinen grauen Mantel über eine Stuhllehne, legt seinen Schal ab und setzt sich an einen runden dunklen Konferenztisch. Mit seinen Kollegen diskutiert er über die neue Ausgabe ihres kleinen Satiremagazins. Rénald Luzier trägt die klobige Brille eines Menschen, der viel liest und viel nachdenkt, und er redet wie einer, der beim Nachdenken viele Kurven nimmt. Er muss jetzt viel reden, weil weiter geredet werden muss. Draußen jagen gerade zehntausende Polizisten die beiden Männer, die an seinem Geburtstag acht seiner Freunde und Kollegen erschossen haben.

Er hat ausgeschlafen, er hat überlebt.

In den Großraumbüros im Haus laufen die Bilder der Verfolgungsjagd live über Fernsehschirme. Unten am Eingang drängen sich Fernsehteams, Reporter und Fotografen. Luzier, Zeichnername Luz, ist mit den anderen Überlebenden ins Redaktionsgebäude der Zeitung Libération eingezogen, um die neue Ausgabe von Charlie Hebdo zu produzieren. Die Welt wartet.

Fünf Tage später, am Mittwoch dieser Woche, werden überall in Frankreich schon am frühen Morgen Menschen vor Kiosken Schlange stehen. Die neue Ausgabe von Charlie Hebdo soll erst eine, dann drei, schließlich fünf Millionen mal gedruckt werden. Etliche Zeitungen veröffentlichen das Cover, das Rénald Luzier in den Tagen nach dem Attentat zeichnen wird.

Man kann ihm jetzt beim Arbeiten zusehen. Fast jeden Tag erscheint ein neues Video auf der Internetseite der Libération. Luzier ist früher oft in kleinen Clips aufgetreten, die von den Blödeleien aus der Redaktion von Charlie Hebdo erzählten. Mit Stéphane Charbonnier, seinem Freund Charb, tobt er im Oktober 2011 zwischen Zeitungsregalen herum. Drei Wochen bevor jemand die Redaktion anzündet. Es ist Luz’ Zeichnung, die damals einen drohenden Mohammed zeigt: 100 Peitschenschläge für alle, die sich über die Ausgabe von Charia Hebdo nicht totlachen. Die Videos stehen alle noch auf der Seite dailymotion.com. Eine angemessen alberne Erinnerung.

Jetzt ist Charb tot und sie sitzen vor leeren weißen Blättern um einen großen runden Tisch und versuchen, weiterzulachen.

Tahar Ben Jelloun steht in seinem großen Erkerzimmer im 5. Arrondissement von Paris. Der Blick geht auf einen kleinen Platz nahe der Kirche Sainte-Geneviève. Ben Jelloun, 70 Jahre alt, die verbliebenen Haare sind kurz geschnitten und weiß wie sein Bart. Er stammt aus Marokko, lebt schon lange in Frankreich und schreibt auf Französisch. Gedichte, Romane, Essays. Regelmäßig publiziert er in Le Monde. Sein Buch „Papa, was ist der Islam?“, in dem er die Grundlagen des islamischen Glaubens erklärt, ist ein Bestseller.

Das 5. Arrondissement ist ein gediegenes Viertel, der Panthéon, Frankreichs Ruhmeshalle für berühmte Persönlichkeiten, die Eliteuniversität Sorbonne und der Jardin du Luxembourg sind nicht weit.

Es ist Dienstag, der sechste Tag nach dem Anschlag. Charlie Hebdo ist inzwischen zu einer Chiffre geworden wie 9/11. Dienstag ist auch der Tag der Trauerfeiern. In Jerusalem zünden Verwandte Fackeln für die vier Toten aus dem jüdischen Supermarkt an. François Hollande, der französische Präsident, würdigt die drei ermordeten Polizisten. Am Nachmittag wird Rénald Luzier die neue Titelseite von Charlie Hebdo vorstellen und versuchen, nicht zu weinen.

Die Polizisten seien gestorben, „damit wir frei leben können“, sagt der Präsident. Frankreich werde nach dem Anschlag nicht zerbrechen.

17 Menschen wurden ermordet. Die Staats- und Regierungschefs der Welt präsentieren sich am Sonntag Schulter an Schulter, Arm in Arm, Wange an Wange. Es wirkt, als wären sich alle unglaublich nah. Millionen Franzosen, Christen, Muslime, Juden, Deutschland und Frankreich.

Auf den Sonntag der Einheit folgt eine Woche der Einsichten.

Zwischen den Hochhäusern von Nizza beobachtet die Muslima Fatima Hmamou, wie der rechte Front National seinen Einfluss vergrößert. In den Niederlanden sagt der junge türkischstämmige Historiker Zihni Özdil, Europa sei bereits gespalten.

Bei der landesweiten Schweigeminute in französischen Schulen für die Opfer des Anschlags sollen Schüler die Mörder von Paris mit Victory-Zeichen gefeiert haben. Es gab Störungen und antisemitische Kommentare.

Das Innenministerium zählte nach dem Anschlag mehr als 50 Angriffe gegen Muslime, ihre Einrichtungen und das, was Angreifer dafür hielten. Beschimpfungen wurden an Wände gesprüht, Frauen mit Kopftuch angegriffen, in einer Kebab-Bude explodierte ein Sprengsatz.

„Die Muslime werden teuer bezahlen“, sagt Tahar Ben Jelloun. Die Angst vor dem Islam, die Angst vor der Angst der anderen werde zunehmen. Dass die Terroristen behauptet haben, sie hätten den Propheten gerächt, macht ihn wütend. „Der Prophet hat nicht darum gebeten“, sagt Ben Jelloun.

Auf einem schmalen Tisch steht sein Laptop, auf einem anderen Pinsel und Farben, an den Wänden Bilder, die er gemalt hat. Er entspannt sich dabei, sagt er. Viel Blau, Gelb und Rot, Aquarell und Tempera, die Gemälde haben etwas Kindliches. Zwei Sitzgruppen, viele Kissen, bequeme Lederstühle.

Für Ben Jelloun ist die Diagnose klar: „Das Problem des Islam in Frankreich ist, dass es keinen Vertreter, keine Hierarchie gibt. Keine Priester, keine Bischöfe, keinen Papst. Jeder, der will, kann sich zum Imam erklären. Ich miete eine Garage, hier im 5. Arrondissement, und sage: Ich bin Imam, das ist meine Moschee. Ich kann erzählen, was ich will. Es gibt keine Kontrolle.“

Frankreich glaubt fest an die Trennung von Staat und Kirche. Dieses laizistische Modell, die völlige Neutralität gegenüber jeder Religion, verstehen viele Muslime nicht, weil man es ihnen nicht erklärt hat, meint Tahar Ben Jelloun. Der strikte Laizismus von Charlie Hebdo ist ihnen umso fremder. Das laizistische Frankreich steckt in der Klemme, sagt Ben Jelloun. Islamfeindlichkeit einerseits, der Rückzug der Muslime aus der Gesellschaft andererseits.

Kann man diese Entwicklung aufhalten?

„Ich finde, dass alle Imame in Frankreich vom Staat bezahlt werden sollten. Aber das geht halt nicht, weil der Staat keiner religiösen Gruppe Geld geben darf.“

Außerdem, sagt er, sollte schon in der Grundschule Religionsgeschichte unterrichtet werden, um das laizistische Modell zu erklären.

Am 7. Januar ist Ben Jelloun zum Mittagessen mit Freunden verabredet. Bevor er aus dem Haus geht, schaltet er kurz den Fernseher an. „Anschlag auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo“, läuft dort als Eilmeldung. Als er nach dem Mittagessen eine SMS bekommt, fünf Tote in der rue Appert, da weiß er, dass sich darunter auch zwei seiner Freunde befinden: die Zeichner Cabu und Wolinski.

Hat er mit den beiden über die Mohammed-Karikaturen gestritten?

Nein, sagt er. Weil Respektlosigkeit ihr Grundsatz war. Ihr Job. Sie respektierten keine Religion. „Für mich ist das nicht der Prophet, den man da sieht. Der ist ein großer Geist, etwas Spirituelles. Ob er eine große Nase oder einen Bart hat, ist völlig egal.“

Verträgt sich der Islam einfach nicht mit Ironie, mit Spott?

„Keine Religion akzeptiert Ironie“, sagt Ben Jelloun.

Man brauche nur Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ zu lesen. „Das Lachen war untersagt in der Kirche. Wer lachte, wurde zum Tode verurteilt. Denn Lachen und Ironie bedeutet Zweifeln, und Zweifeln heißt infrage stellen. Und wer etwas infrage stellt, ist nicht religiös.“

Am Sonntag steckte er bei der großen Demonstration irgendwo in der Menge mit den Fernsehteams fest, die ihn begleiteten. Ein großer Tag. Anderthalb Millionen Menschen trauern und protestieren allein in Paris.

Fast 700 Kilometer entfernt, ganz im Süden des Landes, spürt Fatima Hmamou trotzdem, dass etwas nicht stimmt. „Toll, dass Sie hier sind“, gratulieren ihr einige, als sie mit ihren Kindern in Nizza für die Meinungsfreiheit demonstriert. Fatima Hmamou, 40 Jahre alt, kann sich furchtbar über so etwas ärgern. Es war nicht toll, dass sie da war, findet sie. Es war selbstverständlich.

Sie geht wählen. Sie demonstriert am 1. Mai für die Rechte von Arbeiterinnen. „Die Menschen gucken auf mein Kopftuch und sehen mich nur noch als Muslima“, sagt sie. „Ich bin aber eine Bürgerin Frankreichs, Punkt.“

Auch gegen den rechtsextremen Front National ist sie auf die Straße gegangen. „Sie sind Kriegsgewinnler“, sagt sie.

Einen Tag nach der Massendemo sitzt Fatima Hmamou in einem Café in ihrem ärmlichen Viertel Ariane im Norden Nizzas, trinkt hastig einen frisch gepressten Orangensaft und reibt sich die Schläfen. Eine athletische Frau, verheiratet, vier Kinder. Sie ist erschöpft, sie war viel unterwegs.

Die Bemerkungen auf den Demos haben sie verletzt, genauso wie die Frage, was in ihrer Moschee am Freitag gepredigt worden sei. „Na, was wohl. Dass es verachtenswerte, terroristische Akte waren, dass uns Menschen jeglicher Couleur und Glauben gleich viel wert sein sollten. Das, was ihr vielleicht auch von eurem Pfarrer gehört habt.“

In Ariane ist Hmamou bekannt, man grüßt sie. Sie hat den Verein Femmes Actives gegründet, aktive Frauen, der Ausflüge zu Museen oder Parks anbietet oder Lehrer ihrer Grundschule zu Gesprächen einlädt. Die Schule gilt als Problemschule.

Hmamou reichen die Demonstrationen nicht. „60 Millionen Franzosen sind Charlie. Aber 60 Millionen Franzosen sind auch verantwortlich dafür, dass diese jungen Männer Terroristen wurden. Die Schule, ihre Familie, das Gefängnis, wir haben sie zu dem gemacht.“ Die Täter hätten genauso gut hier aufwachsen können, sagt sie und zeigt auf Hochhausblöcke.

Mehr auf taz.de

Interview: Der neue Antisemitismus erscheint ihm „verschwommen, zersplittert“. Er fand ihn in den Banlieues. Das ganze Gespräch mit Tahar Ben Jelloun: taz.de/benjelloun.

Scherze: Wie Charlie Hebdo blödelt. Ein Nachruf in Videos: taz.de/albernercharlie.

Gewalt: Auf taz.de finden Sie eine Karte der Anschläge gegen Muslime in Frankreich.

Nach dem Ende des Algerienkrieges hatte der Staat 1962 in kürzester Zeit zehntausende Wohnungen für die französischen Siedler hochgezogen, die aus dem Maghrebstaat flüchteten. In Nizza wurde aus dem Olivenhain in Ariane in wenigen Monaten ein Wohnhausghetto.

Es riecht nach Müll, nebenan ist ein Krematorium, die vierspurige Ausfallstraße lärmt und dazwischen wohnen die 30.000 Einwohner in Blocks. Wird hier ein Diebstahl angezeigt, rückt die Polizei gleich mit einem Dutzend Wagen an. Kugelsichere Westen, Maschinenpistolen. Wie die tausenden Polizisten, die derzeit patrouillieren und jüdische und muslimische Einrichtungen sichern. Wie bei einem Antiterroreinsatz.

Hmamou schickt ihre älteren Kinder auf eine private, katholische Schule. Sie sollten nicht in der „muslimischen Einheitssauce“ von Ariane lernen, sagt sie. Einige hier beschimpften sie als „elitär“. Toleranz sollen ihre Kinder lernen, sagt Hmamou. „Ich möchte, dass sie katholische und jüdische Freunde haben.“

Manchmal fährt Fatima Hmamou mit dem Auto die 60 Kilometer nach Fréjus, südwestlich von Nizza. Sie hat dort für den Bau einer Moschee gespendet. Seit in Fréjus der Front National regiere, verändere sich das Klima. „Jetzt, nach den Anschlägen, sind die Menschen vielleicht empfänglicher dafür“, denkt sie. Das macht ihr Angst.

Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 hat der Front National in elf Gemeinden die Macht übernommen. Im Europäischen Parlament stellt der FN inzwischen ein Drittel der französischen Abgeordneten.

Bürgermeister David Rachline, 27 Jahre alt, herrscht in der Stadt am Mittelmeer wie ein kleiner König: Er halbierte den sozialen Einrichtungen, die oft Migranten unterstützen, das Budget. Als eine linke Partei auf dem sonntäglichen Markt einen Stand aufbaute, ließ er die Polizei räumen. Mit einem Erlass stoppte er den Bau der Moschee. Erst ein Verwaltungsgericht sorgte dafür dass die Arbeiten weitergehen. Viele Anwohner haben Verständnis für den Baustopp.

Im Augenblick allerdings sieht es so aus, als hätte sich die Parteichefin Marine Le Pen verkalkuliert. Noch während die Polizei die Terroristen jagte, forderte sie, die Todesstrafe wieder einzuführen. Dann beschwerte sie sich, dass sie zur Pariser Großdemonstration nicht eingeladen worden sei. Sie ging im südfranzösischen Beaucaire auf die Straße. Nicht einmal tausend Menschen kamen, die meisten waren Parteimitglieder.

Die Zukunft des Front National sei völlig offen, sagt ein hoher französischer Regierungsbeamter. Zwischen den Politikern in Paris, sonst heftig zerstritten, herrsche nach dem Schock ein Waffenstillstand. „Gut möglich, dass sich die Republik entstaubt“, sagt er. „Und sich auf ihre Werte besinnt.“ Vielleicht würden sich einige Wähler sogar vom FN abwenden – zu unseriös.

Er sieht, dass sich in den Banlieues Abgehängte radikalisieren. „Die statistische Realität ist aber Integration“, sagt er. Gerade der Tod des Polizisten Ahmed Merabet verdeutliche das. Er war Muslim. Gäbe es nur einen Polizisten muslimischen Glaubens in Paris, hätte es wohl kaum ihn getroffen. „Die statistische Realität ist Ahmed Merabet.“

Was die Sorge nicht mildert.

„Trotz der Einigkeit auf der Demonstration am Sonntag haben wir Angst um unsere Kinder“, sagt Abdallah Zekri, Präsident der Beobachtungsstelle für Islamfeindlichkeit des muslimischen Dachverbandes CFCM.

Auch in Fréjus fürchten manche, die terroristischen Anschläge könnten das Klima weiter vergiften. „Die Meinungsfreiheit ist bedroht. Alle diejenigen, die den Front National kritisieren, werden bestraft“, sagt eine Aktivistin des Bürgerbündnisses gegen den FN. Nach einem kritischen Interview seien der Leiterin einer sozialen Einrichtung Gelder gestrichen worden.

Es werde aus unterschiedlichen Richtungen versucht, Denkverbote aufzustellen, sagt Fatima Hmamou. „Dürfen wir jetzt Karikaturen von Charlie Hebdo kritisieren? Dürfen wir sagen, unsere Gesellschaft hat diese Menschen zu Terroristen gemacht?“

An seinem zweiten Arbeitstag an dem neuen Konferenztisch in der Libération-Redaktion versucht Rénald Luzier in einem weiteren Video zu erklären, was er dort gerade tut. Er trägt eine schwarze Krawatte und ein schwarzes Hemd. Es gehe darum, sagt Luzier, von den Sonderbarkeiten dieser Welt zu erzählen. Und weil sie sich gerade mittendrin befänden, müssten sie es schaffen, Abstand zu gewinnen.

Humor, schrieb der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud, sei nicht resigniert, er sei trotzig: „Er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag.“

Rénald Luziers erster Entwurf zeigt die nackten Hintern seiner toten Kollegen, wie sie am Boden liegen. „Meinungsfreiheit“, steht darüber. Und „Am Arsch“ in roten Buchstaben darunter.

Humor als Lust und Trotz.

Es sei ein kathartischer Moment für ihn gewesen, das zu zeichnen, wird Luzier später sagen. Es habe etwas Reinigendes gehabt.

Am Tag des Attentats auf die Redaktion verbringt Zihni Özdil gerade seinen letzten Urlaubstag an der türkischen Ägäisküste. Sein Vater, lange Gastarbeiter in den Niederlanden, wohnt wieder dort. Auf Twitter liest Özdil von dem Massaker. In seinem Kopf setzt er den Anschlag sofort in Beziehung zu dem, was nach dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam passiert ist. „Shit, shit, shit“, denkt er. „Nach 9/11, London und dem Islamischen Staat wird dies der letzte Tropfen sein. Westeuropa wird sich pegidisieren. Die Angst wird permanent regieren.“

Özdil gibt seiner nächsten Kolumne den bitteren Titel: „Lasst die Pegidisierung Europas beginnen“. Sie erscheint in der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad. Zihni Özdil, 33 Jahre alt, Historiker der Universität von Rotterdam, analysiert scharf.

„Alle Anstrengung, nach dem 11. September Differenziertheit und Verstand in die Debatte über ‚den Islam‘, Migration und Identität zu bringen, können wir nach diesem Anschlag in den Mülleimer werfen“, glaubt er. Manche nennen Zhini Özdil einen Kulturpessimisten.

„Ich bin eher ein Kulturrealist“, sagt er selbst. Eine Bar nahe der Rotterdamer Centraal Station. Gläserklirren, Musik, Freitagabendgespräche. Özdil hat die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt. Er spricht schnell. „Paris“, diagnostiziert er, „ist Europas 11. September. Wir waren ohnehin auf dem Weg dorthin.“

Als seine Kolumne erscheint, reist Zihni Özdil wieder in das Land, das er als seines betrachtet, auch wenn manche Niederländer schimpfen, er solle zurück in sein eigenes. Einige Türkischstämmige nennen ihn Armenier und Landesverräter.

Özdil versteht das Spaltende vielleicht so gut, weil er es aus zwei Perspektiven erlebt. Er sammelt all die Beschimpfungen in einem eigenen „Hassologie“-Blog.

Als Özdil nach seinem Urlaub die Stadt betritt, ziehen 3.000 Menschen durch Rotterdam, um der ermordeten Journalisten und Polizisten zu gedenken. Bürgermeister Ahmed Aboutaleb, Sohn eines Dorf-Imams aus dem marokkanischen Rifgebirge, fordert die Menschen zu lauter Zustimmung auf, um „die 500 Kilometer bis Paris zu überbrücken“. Der Applaus tost.

Im Herbst war es zehn Jahre her, dass Theo van Gogh von einem Islamisten auf offener Straße abgeschlachtet wurde. Er hatte den Film „Submission“ gedreht. Seine These: Der Islam unterdrückt Frauen. Der Täter schoss auf ihn und schnitt ihm die Kehle durch. Ein Trauma, bis heute.

Wir sind in einer Kriegssituation

ROGER CUKIERMAN, PRÄSIDENT DER JÜDISCHEN DACHORGANISATION CRIF IN FRANKREICH

Wir werden diese barbarischen Mörder besiegen

DAVID CAMERON, PREMIERMINISTER GROSSBRITANNIEN

In einer Demokratie ist nur die Waffe des Wortes zulässig

KURT WESTERGAARD, MOHAMMED-KARIKATURIST AUS DÄNEMARK

Die Täter seien sich ähnlich, beginnt Özdil in der Bar am Bahnhof. Zerbrochenes Zuhause, kriminelle Vergangenheit, der Wunsch nach einer Familie.

Wenn er über die Ermordung des Filmemachers spricht, klingt es wie eine Geschichte aus einer anderen Zeit. Und genau das ist es auch, findet Zihni Özdil: „Es war die Zeit nach 9/11. Und trotzdem, oder gerade darum, gab es Raum für Debatten. Für einen Diskurs über Bürgerschaft, über die Spaltung der Bevölkerungsgruppen“, sagt er. Die Terroristen von Paris hätten der Debatte den Genickschuss gegeben.

Kein nuancierendes Argument könne etwas ausrichten gegen Bilder schwerbewaffneter Muslime, die in der Stadt von Voltaire mordeten, der Wiege der westlichen Aufklärung.

Verunsicherung nimmt er keine wahr. „Im Gegenteil, ich sehe gerade Sicherheit, kulturell wie psychologisch. Die Definitionslinien sind klar: Wir sind Europäer. Dies ist unser Land.“

In dieser Woche ist Michel Houellebecqs Buch „Soumission“ in Deutschland herausgekommen. „Soumission“ wie Unterwerfung. In Frankreich erschien es am Tag des Anschlags. Eine islamische Partei übernimmt darin in Paris die Macht.

In den Niederlanden haben vor wenigen Monaten zwei türkischstämmige Abgeordnete wegen eines Streits um die richtige Integrationspolitik die Parlamentsfraktion der Sozialdemokraten verlassen. Dass einer von ihnen einem anderen türkischstämmigen Kollegen sagte, Allah möge ihn strafen, bestimmte tagelang die Schlagzeilen.

Man werden nun zusammen „eine Bewegung aufbauen, nach der sich die Niederlande sehnen“, sagte einer der abtrünnigen Sozialdemokraten – was als Ankündigung einer muslimischen Partei interpretiert wurde. Houellebecqs Fiktion wirkt da ein wenig realer.

Zihni Özdil sieht Europas Gesellschaften auf eine „permanente Zweiteilung“ zusteuern. „Paradox“, bemerkt er, „ist vor allem eins: Es gibt jetzt viel mehr Muslime als nach dem Mord an van Gogh, die sich distanzieren und sagen, dies sei nicht ihr Islam. Doch das wird keinen Einfluss haben. Die Zeit der Diskussionen ist abgelaufen.“ Er bestellt noch ein Bier.

Der Autor Tahar Ben Jelloun mag den Ironiker Houellebecq nicht. „Er gießt Öl ins Feuer“, sagt er in seiner Wohnung im 5. Arrondissement. „Im Übrigen wird es nie einen muslimischen Präsidenten geben in Frankreich, der von allen Muslimen gewählt würde.“

Das Telefon klingelt. Die Mittagsverabredung. Er wird viel angerufen in diesen Tagen.

Ein paar Stunden später blättert der Zeichner Rénald Luzier durch die fertige Ausgabe, vor ihm eine Phalanx von Kameras. Er soll den neuen Titel von Charlie Hebdo erklären. Luzier redet wieder viel zu viel. Er wiederholt sich, macht lange Pausen. Manchmal schweigt er einfach nur, das Gesicht in den Händen vergraben.

Er habe, sagt Rénald Luzier, eine Redaktionskonferenz in seinem Kopf abgehalten. Alle seien da gewesen. Die Lebenden und die Toten. Dann habe er Mohammed gemalt, diese Figur, ihre Figur, die all das bewirkt hat. Mit dem Schild: „Je suis Charlie“. Er habe „Tout est pardonné“ darüber geschrieben. Alles ist vergeben. Dann habe er geweint.

Und dann, sagt Rénald Luzier, haben sie gelacht.

■  Sabine Seifert, 57, ist taz-Reportageredakteurin

■  Annika Joeres, 36, lebt als freie Autorin in Südfrankreich

 Tobias Müller, 39, schreibt für die taz aus den Niederlanden

■  Johannes Gernert, 34, ist Redakteur der taz.am wochenende

■  Astrid Geisler, 40, ist taz-Parlamentskorrespondentin