DIE FEINEN UNTERSCHIEDE BEIM AN- UND ABTANZEN – DAMALS UND HEUTE
: In Tanzschulen gibt es zu wenig Männer, in den Clubs zu viele

Mit Discos begann die Selbstorganisation der Körperkonkurrenz

VON HELMUT HÖGE

Für das Abtanzen sind heute die Clubs, früher Discos genannt, zuständig. Das Antanzen dagegen findet nach wie vor in Tanzschulen statt. Zwar mussten viele Tanzschulen inzwischen aufgeben. Gleichzeitig erweiterte sich jedoch das Kursangebot: brasilianische, kubanische und argentinische Exilanten machten Schulen auf.

Daneben werden die Überbleibsel der letzten Ballhäuser, drei allein in Mitte und eins in Charlottenburg, zu Treffpunkten einsamer Türken und Araber, die ältere Damen auffordern. Manchen geht es dabei um eine gesetzliche Einbürgerung. „Klärchen Ballhaus“ in Mitte wurde unterdes erfolgreich relaunched. Bei laufendem Discoprogramm gibt es dort ein von Tanzlehrerinnen geleitetes Programm. Das uns hier interessierende Antanzen ist also nicht totzukriegen. Die Tanzschulen haben jedoch ihren gesellschaftlichen Auftrag verloren, sind reine Vergnügungsorte geworden.

In den 60ern standen sich dort die Mädchen und Jungs noch aufgereiht gegenüber, um sich auf Anweisung zu berühren. Die Mädchen hatten zu Hause schon alle geübt. Die Jungs hatten feuchte Hände und traten den Mädchen beim Tanzen auf die Füße. Es ging in den Tanzschulen auch um gutes Benehmen gegenüber dem anderen Geschlecht. Dennoch war das Programm für die Mädchen demütigend, mindestens für die, die immer zuletzt aufgefordert wurden. Umgekehrt wurde unter den Jungs verlacht, wer ein besonders dickes oder pickeliges Mädchen abbekommen hatte. In der Tanzschule lernte man die Konkurrenz der Körper. Diese Funktion ging auf die Discos über, die Selbstorganisation der Körperkonkurrenz begann.

Der Unterschied zwischen den Clubs und den Tanzschulen besteht darin, dass in jenen ein Männerüberschuss und in diesen ein Männermangel herrscht. So müssen tanzwillige Damen immer öfter vertröstet werden bei ihren Kursanmeldungen. Hier böte sich der Beruf des Eintänzers auf eigene Rechnung an, wie er in den Discos an der türkisch-arabischen Küste noch existiert.

Wurden anfangs in den Discos noch einige Standardtänze wie Discofox getanzt, so erweiterten sich auf der anderen Seite die Tanzschulen, indem sie auch Rock ’n’ Roll und Twist lehrten (heute: HipHop und Streetdance). Es ging dabei, hüben wie drüben, um die Reterritorialisierung der mit Parolen wie „Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll“ sich gerade deterritorialisierenden Jugend. Man bangte schier um sie.

Und bangt noch immer – wegen Drogen aber nur noch. Was die Tänze und den vorehelichen Geschlechtsverkehr betrifft, gab man auf. Nirgendwo wird heute etwa das individuelle Sichbewegen nach Techno- oder Trancemusik gelehrt. Andererseits hat Rock-’n’-Roll-Tanzen nur noch im Repertoire des Standardtanzes überlebt. Kein Wunder: Vor dem Rockerheim Jodelkeller in der Adalbertstraße stehen heute manchmal mehr Rollatoren und Fahrräder als Motorräder.