Ein pompöses Déjà-vu

Die ARD-Dokumentation „Die RAF“ wartete mit bekannten Bilderfluten zum Thema auf. Neues und ernsthaftes Material zur Erklärung des linken Terrorismus in der Bundesrepublik lieferte sie nicht

VON JAN FEDDERSEN

Das konnte man in der Dokumentation „Die RAF“, gestückelt auf zwei Teile über insgesamt 180 Minuten, lernen: Dass da eine Gruppe von jungen Menschen das demokratische Deutschland mit einem Terror überzog, den sie für notwendig hielt, um diesem Land die faschistische Charaktermaske vom Gesicht zu reißen. Auf der Strecke blieben, um im Desperadojargon zu bleiben, drei Dutzend Menschen, ermordet durch die Hand der Terroristen.

Man konnte darin erfahren, dass die Studentenbewegung aufwühlend war, dass alles mit ihr seinen Anfang nahm, mit dem Tod von Benno Ohnesorg, mit der restvölkischen Militanz der Mehrheitsgesellschaft und mit berechtigt anmutenden Anliegen. Spiegel-Chef Stefan Aust und Helmar Büchel haben eine Dokumentation gefertigt, die, weil sie in dem als staatstragend empfundenen Sender ARD lief, besonders offiziös wirkte. Alles war enthalten, was unbedingt gewusst werden muss. Gespickt mit einer Fülle von Interviews – von den ehemaligen Terroristen Peter-Jürgen Boock und Silke Meier-Witt bis zu Mitgliedern verschiedener Ermittlungsgruppen (BKA, LKAs) und Politikern, auch Helmut Schmidt. Extraspannend war der zweite Teil gestern, weil er das Drama um die in Stammheim einsitzenden Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller aufgriff, für deren Freipressung ein Flugzeug entführt wurde – und weil darin außerdem die Ermordung des gekidnappten Hanns Martin Schleyer thematisiert wurde.

Manche Details sind erhellt worden, vor allem durch die Bekundungen von Peter-Jürgen Boock, einer Plaudertasche seit vielen Jahren, einer, von der die Experten nicht immer wissen, was nun wahr ist und was nur in Boocks eigenem Interesse von ihm für wahr ausgegeben wird. Nahe gebracht wurde, dass Ulrike Meinhof am liebsten doch ausgestiegen wäre, wenn bloß die protestantische Oberkaderin Gudrun Ensslin nicht gewesen wäre. Man erfuhr, dass Stammheim auch ein Knast war, aber in erster Linie die deutsche Kommandozentrale der RAF – und dass ein damals illegales Abhörteam der deutschen Sicherheitsorgane sich der Kommunikationsnetze der RAF selbst bediente, um an deren Absprachen teilzuhaben. Alles Resultate feinsinniger Recherchen.

Allein: Die Dokumentation selbst lebte, gerade weil all diese Stoffe en gros, nicht immer im Detail, bekannt sind, vom wohligen Bad des zuschauenden Publikums in bekannten Bilderfluten, weil doch bekannt ist, wie die Chose ausging: RAF? Gott sei Dank gescheitert. Helmut Schmidt? Ein ziemlich umsichtiger Hüter des Rechtsstaatlichen. Die Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“? Die GSG 9 machte ihre Arbeit, zum Glück. Insofern war alles nur ein pompöses Déjà-vu, eine Retrospektive im Filmischen, die jeder kennt. Aber wenn jemand keinen eigenen inneren Film zum Thema mitlaufen hat: Was hätte er oder sie verstehen können? Dass da junge Leute nicht mehr alle Tassen im Schrank hatten? Dass sie auf einen entschlossenen Rechtsstaat trafen, der ihren Selbstermächtigungsstrategien keinen Raum lassen wollte?

Was diese Dokumentation also etwa nicht aufblätterte, war eine Sittengeschichte zur Vorgeschichte des Terrors selbst. Nichts über das Nationalsozialistische in der Bundesrepublik oder über das, was der erste Teil dieses Films zu erläutern beanspruchte: „Der Krieg der Bürgerkinder“, hieß er – aber dass es Bürgerkinder waren, Sprösslinge aus bildungsbürgerlichen oder bohemehaften Umfeldern, erfuhren wir allenfalls randständig. Man hätte gern erfahren, wie sie ihre Welt erklärten, warum sie auf Feindschaft setzten, auf Eskalation, und weshalb sie den Tod so liebten: Worin also ihr konsequenter Existentialismus besonders ruhte? In dieser Hinsicht logen die Bilder über die alltagskulturellen Wahrheiten der Bundesrepublik jener Jahre hinweg: Sie spiegelten dokumentarischen Glanz vor – aber nichts war zu sehen vom zähen Aufbau neuer, postnazistischer Generationen eines Landes, das eben mit dieser Gewalt nichts zu schaffen haben mochte.

Keine GewerkschafterInnen kamen zu Wort, keine PolitikerInnen, die sich durch die RAF und die Ihren in Not gebracht fühlten: als Linke, als Liberale, als jedenfalls nicht dem CDU-Staat der Adenauerjahre Angehörige. Die ARD könnte sich den Luxus erlauben, gründlicher zu graben. Sie setzte stattdessen auf die Expertise von RAF-Exegeten. Deren Problem ist, dass sie nur über die RAF selbst etwas sagen können, aber kaum etwas über all das, was sonst so los war jenseits der Welten der Terroristen.