Zweideutige Gesten

Die Melancholie des argentinischen Kinos lässt sich psychoanalytisch und politisch lesen. Eine Reihe in den Hackeschen Höfen gibt darüber Auskunft

VON BERT REBHANDL

Es gibt viele Varianten der Geschichte von dem Mann, der nur schnell hinausgeht, um Zigaretten zu holen. In dem argentinischen Film „Las vidas posibles“ von Sandra Gugliotta fliegt Luciano von Buenos Aires nach Patagonien. Er ruft von unterwegs noch einmal an, danach ist nichts mehr von ihm zu hören. Irgendwann wird sein Leihwagen aus einem See gezogen. Seine Frau Carla will an sein spurloses Verschwinden nicht glauben und macht sich selbst auf die Suche. Carla glaubt, in einem Immobilienhändler ihren Mann wiederzuerkennen. Sie will von dieser Vorstellung nicht ablassen, auch dann nicht, als sich die Indizien immer mehr verdichten, dass Luciano einem Unfall zum Opfer gefallen ist. Sandra Gugliotta hält bewusst in der Schwebe, welche Ebene der Realität die entscheidende ist – das unwirkliche Licht lässt alles möglich erscheinen. Der Film spielt bis auf eine kurze Sequenz durchweg in der kalten Schönheit des nahezu menschenleeren Südens von Argentinien.

„Historias de vida y melancolía“ ist ein passender Titel, wenn der World Cinema Fund der Berlinale in Zusammenarbeit mit der argentinischen Botschaft und dem Auswärtigen Amt an diesem Wochenende in den Hackeschen Höfen eine kleine Reihe mit Filmen aus Argentinien zeigt. Das melancholische Leben sucht nach Chancen für einen Ausstieg; auch in „El Otro“ von Ariel Rotter geht es um ein Verschwinden, um das Aufgehen in einer anderen Existenz. In „Los muertos“ von Lisandro Alonso wiederum kommt ein Mann nach langer Haft aus dem Gefängnis. Er macht sich auf den Weg zu seiner Schwester, durchquert nahezu wortlos eine immer wilder werdende Landschaft und kommt schließlich an einen Ort, an dem diese rätselhafte Geschichte in einer zutiefst zweideutigen Geste ein offenes Ende findet. Lisandro Alonso gehört zusammen mit Lucrecia Martel zu den interessantesten der jungen Filmemacher aus Argentinien.

Lucrecia Martel hat vor einigen Jahren mit „La Ciénaga“ nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht. Ihr darauf folgender Film „La niña santa“ fand in Deutschland jedoch wenig Aufmerksamkeit, und das völlig zu Unrecht, denn die Themen von Lucrezia Martel – komplizierte Familienkonstellationen, adoleszente Sexualität, morbide Religiosität – sind auch hier wieder präsent. Er handelt von den Mädchen Amalia und Josefina, die in einem Hotel leben, in dem gerade ein großer Ärztekongress stattfindet. Sie gehen zur Chorprobe, schwimmen im Pool und beobachten die Ärzte. Amalia provoziert vor allem Doktor Jano, der durch den Teenager in eine kompromittierende Situation gerät, deren Ambivalenz das Charakteristikum des ganzen Films ist.

Die Komplexität der Einstellungen von Lucrecia Martel hat im gegenwärtigen Weltkino wenig Vergleichbares, man sieht ihren Filmen auch deutlich an, dass Argentinien sehr früh und intensiv die Psychoanalyse rezipiert hat. Neben diesen im weitesten Sinne existenziell orientierten Filmen bleibt das andere wichtige Thema des argentinischen Kinos in der Reihe ein wenig unterrepräsentiert: Die politische und wirtschaftliche Krise der vergangenen Jahre findet am ehesten in der Dokumentation „Estrellas“ über Slumbewohner, die sich als Komparsen vermarkten und selbst organisieren, einen Ausdruck. „Croníca de una fuga“ von Adrián Caetano widmet sich den Nachwirkungen der Militärdiktatur, ein Thema, das durch das neue Buch von Naomi Klein auch international neues Interesse erfahren wird.

Der eigenwilligste Film der Reihe ist schließlich eine Koproduktion mit Paraguay, die auch in diesem kinematografisch kaum erschlossenen Binnenland spielt: „Hamaca Paraguaya“ von Paz Encina ist ein Hörspiel mit Geisterbildern, das weitgehend aus den Gesprächen zweier alter Eheleute besteht, die am Rande des Dschungels in einer Hängematte sitzen und auf die Rückkehr ihres Sohnes aus dem Chaco-Krieg in den Dreißigerjahren warten. Auf unnachahmliche Weise findet die Regisseurin hier einen Ausdruck für eine historische Erfahrung, die aus westlicher Perspektive vollkommen marginal war und mit den Mitteln der konventionellen Repräsentation (ein Kriegsfilm?) kaum Aufmerksamkeit finden würde. Indem sie das Geschehen auf ein Beckett’sches Endspiel reduziert, gewinnt Paz Encina eine Dimension, die zugleich von der Abwesenheit ihres Landes im historischen Diskurs der Moderne erzählt. „Hamaca Paraguaya“ ist ein Außenposten und zugleich einer der zentralen Filme der letzten Jahre – man muss ihn nur im Kontext sehen, zum Beispiel auch der Reihe „Historias de vida y melancolía“.

„Historias de vida y melancolía“ vom 13. bis 15. 9. im Kino Hackesche Höfe, Programm: www.berlinale.de