die taz vor sechs jahren über die reaktion des westens auf 9/11
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Zum ersten Mal seit dem 11. September gibt es Grund, auch in der Bundesrepublik beunruhigt zu sein. Deutschland hat den ersten Schritt in Richtung Krieg getan – und die Regierung hat es vor ihren Bürgern gut verborgen. Noch am Mittwochnachmittag bestritt Kanzleramtsminister Steinmeier, dass Gerhard Schröder mit seinem Satz von der „Kriegserklärung“ den Bündnisfall gemeint habe. Nur Stunden später gaben Schröder und sein verkleinertes Sicherheitskabinett der Nato ihr Okay. Zu diesem Zeitpunkt wusste praktisch niemand in Deutschland auch nur von der Absicht des Nato-Rats, den Bündnisfall zu erklären. Selbst die Parteien hat der Kanzler erst nachträglich informiert – die Öffentlichkeit noch später. Das Vertrauen der rot-grünen Koalition in die freie Gesellschaft war offenbar nicht sehr groß. Dabei hätte ein Minimum an öffentlicher Erörterung Not getan. Rot-Grün lässt sich ein auf die Logik der Eskalation. Nicht weil ein Vergeltungsschlag wahrscheinlicher wird – schon vorher war klar, dass sich die USA davon kaum abbringen lassen. Doch je mehr Länder sich an einer Vergeltung beteiligen, desto größer wird die Gefahr, dass sie umso heftiger ausfällt. Was wiederum eine drastische Reaktion der Terroristen provozieren könnte. Die Gefahr besteht in einem Rutschbahneffekt: Die Politik kann den Folgen ihrer eigenen Rhetorik nicht mehr ausweichen.

Die deutsche Öffentlichkeit wird einen Militärschlag nicht verhindern können. Doch die Wucht einer Operation hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, welche Position die Bundesregierung in der EU und der Nato künftig bezieht. Dies hängt stärker, als manche meinen, von der Stimmung in Deutschland ab. Fatal ist daher, wenn die Politik die Meinungsbildung der Bürger verhindert, indem Deutschland auf einen Solidaritätskurs eingeschworen wird, der kein Nachdenken mehr kennt. In einer Welt in Spannung kann ein Mehr an Feuerkraft ein weniger an Sicherheit bringen Patrick Schwarz, taz 14. 9. 2001