„Solidarität wird hier jetzt jeden Tag gelebt“

KUNSTAKTION Damit die Opfer der Anschläge nicht allein zum Prozess reisen müssen, begleiten Unterstützer aus Köln und Berlin sie nach München. Kundgebung vor dem Gericht mit Reden und Musik

MÜNCHEN/KÖLN taz | Kurz nach acht Uhr sind vor dem Münchner Oberlandesgericht Schreddergeräusche zu hören. Dokumente werden zerkleinert. Die da an diesem Dienstagmorgen so fleißig arbeiten, sind allerdings keine Mitarbeiter des Verfassungsschutzes: Die Aktion ist Teil einer Solidaritätskundgebung.

Während drinnen die Opfer über ihr Leiden nach dem Nagelbombenanschlag vom Juni 2004 berichten, erinnern draußen rund 200 Unterstützer an die Geschehnisse jener Zeit und das Versagen der Behörden. „Keupstraße ist überall – Für eine Gesellschaft ohne Rassismus“, heißt es auf Transparenten, die sie mitgebracht haben, und: „Das Schweigen brechen! NSU-Terror Staat & Nazis Hand in Hand“. Die Sängerin Ilkay Yilmaz, die auch Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Türkei/Deutschland (Tüday) ist, tritt mit zwei Liedern als erste Künstlerin auf.

Yilmaz ist, wie die meisten TeilnehmerInnen der Aktion, aus Köln angereist. „Wir wollen die Betroffen in München nicht allein lassen“, sagt Timo Glatz, Pressesprecher der Initiative „Keupstraße ist überall“. Marina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linken und Mitglied des Innenausschusses, fordert, die „Schlussfolgerungen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen im Bund und in den Ländern endlich in die Tat umzusetzen“. Man müsse „Rassismus in allen Formen“ entgegentreten, auch bei Polizei und Justiz.

Gegen 17 Uhr steht noch ein Auftritt der deutsch-türkisch-italienischen Rapgruppe Microphone Mafia auf dem Programm und schließlich eine Demonstration bis zum Sendlinger Tor.

Die rund 150 SympathisantInnen aus Köln sind Montagnacht um elf Uhr in Bussen nach München aufgebrochen. Vor ihrer Abfahrt hat es eine kurze Kundgebung gegeben – vor den Toren des ehemaligen Carlswerks im Stadtteil Mülheim, in dem gerade der französische Schriftsteller Michel Houellebecq aus seinem neuen Werk gelesen hat.

Mit nach München reisen auch etwa 20 SchülerInnen des Kölner Hölderlin-Gymnasiums, darunter die 17-jährige Rabia. Deren Mutter, Kezban Kamis, sagt, es sei gut, dass der Anschlag in der Keupstraße und der Prozess in der Schule aufgearbeitet werden: „Es ist wichtig zu zeigen: So etwas darf nie wieder passieren.“

Zur nächtlichen Verabschiedung in Köln gekommen ist auch der Dramaturg Thomas Laue vom örtlichen Schauspielhaus, der an dem Stück „Die Lücke“ über den Anschlag mitgearbeitet hat. Der Anschlag habe etwas hervorgebracht, was sicher nicht Ziel der Attentäter gewesen sei. „Hier gibt es jetzt eine besondere Nachbarschaft“, sagt er. „Miteinander und Solidarität werden hier jeden Tag gelebt.“

Das bestätigen Ahmet Erdogan, der Vorsitzende der Ömer-ul-Faruk-Moschee-Gemeinde, und Meral Sahin, die Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße. „Ich bin mit dem Herzen bei euch, ich wäre gerne mitgekommen“, sagt Meral Sahin, die in der Keupstraße ein Dekogeschäft betreibt. Die Moschee-Gemeinde unterstütze die Fahrt nach München, sagt Ahmet Erdogan: „Es ist wichtig, dass wir Zusammenhalt zeigen.“ANJA KRÜGER, ANDREAS SPEIT