: Zivilcourage und Engagement für die Gesellschaft: Das kriegt man ohne Zeitungen nicht gebacken
Wibke Bruhns, 69, Journalistin und Autorin, war die erste Nachrichtensprecherin in Deutschland (“Heute“, ZDF). Sie arbeitete für den Stern in Israel und Washington und war Kulturchefin beim ORB. 2004 erschien ihr Bestseller „Meines Vaters Land“, die Geschichte ihrer Familie.
Es war eine andere Welt. Ich sage nicht, eine bessere, weil Hinterhertrauern müßig ist und Nach-vorn-Gucken mehr Spaß macht. Aber anders war es schon, wenn junge Leute zu Hunderten im Laufschritt die Straßen blockierten, Sprechchöre gegen die Notstandsgesetze skandierend, gegen Springer, gegen den Vietnamkrieg. 100.000 und mehr im Bonner Hofgarten gegen die Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen. Die Krawalle um Brokdorf, Wackersdorf, Startbahn West allerdings sind kein Grund zu nostalgischem Stolz. Aber lebendig gewesen sind die Leute damals. Meine Töchter können noch heute die Anti-AKW-Lieder auswendig, man hatte ein wie immer fragwürdiges Anliegen im Kopf, das uns aus den Sesseln scheuchte. Gegen den Staat hieß immer auch „unser“ Staat. Es gab keinen anderen.
Die Themen seien ausgegangen heute, heißt es. Da pöbelt kein Adenauer mehr einem Brandt alias Frahm hinterher, eine Frau regiert das Land, bekennende Schwule werden Regierende Bürgermeister und Bundestagsabgeordnete. Die Ostverträge sind längst unter Dach und Fach und modern dort vor sich hin, weil die Mauer weg ist und sowieso alles anders. Heute fällt kein deutscher Kanzler mehr vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto auf die Knie und provoziert damit nationalkonservative Empörung. Stattdessen muss sich Europa der Zumutungen der Brüder Kaczynski erwehren, die Polens Weltkriegstote ins Zähltableau der Gemeinschaft einschmuggeln wollen.
Aber keine Themen mehr? Fast zwei Millionen arme Kinder in Deutschland - kein Thema? 17 Prozent aller Kinder sollen sich von 2,28 Euro pro Tag ernähren, das ist die Hälfte dessen, was sie brauchen, um gesund groß zu werden. Kein Thema? Wo sind die Hungermärsche in den Straßen unseres so reichen Landes? Wo empört sich jemand darüber, dass Schulanfänger mit Kosten von 180 Euro belastet werden, die Hartz-IV-Regeln aber nur 1,63 Euro für Schulmaterial im Monat vorsehen? Wer jammert da über das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der Pisa-Studie? Woher sollen die erfahren, wie alles mal war?
Auf einer der Demonstrationen zum Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die alljährlich im Januar in Berlin stattfinden, habe ich junge Leute gefragt, wer die beiden denn gewesen seien, um derentwillen hier Winterkälte und Argusaugen der Polizeibegleitung getrotzt wird. “Woher soll ich das wissen?!“ - Achselzucken, Unverständnis auf dem langen Weg nach Friedrichsfelde. Warum also? „Vielleicht gibt es ja Randale!“ - Hoffnung schwang mit. Rote Fahnen, sozialistische Lieder (vom Band), Nelken, 10 Grad minus, das alles ohne die Menschen, um deren Ermordung es hier ging? Ohne Spartakus, ohne linke Geschichte in Deutschland? Der Vietnamkrieg - der hat die Leute aufgeregt bis hinein in die turbulenten Sit-ins, Teach-ins, was immer, in den Universitäten landauf, landab. Jeder wusste von dem amerikanischen Massaker von My Lai im März 68, jeder wusste, dass Ho Chi Minh, Führer Nordvietnams, „der Gute“ war. Kennt noch jemand den Begriff Vietcong? Heute sind die Soldaten der Nationalen Front Nordvietnams Akteure von Computerspielen. Macht ja nichts. Es ist lange her.
Aber wo sind die Straßenproteste gegen die USA im Irak, wo steht jemand auf gegen Abu Ghraib und Guantánamo? Geht uns das nichts an? Ging uns der Schah von Persien 1967 so viel mehr an? Gegen dessen Folterpraxis protestierten aufgeheizte, von Polizei und „Jubelpersern“ malträtierte Studenten vor der Deutschen Oper in Berlin. Benno Ohnesorg wurde dabei erschossen von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras. Sein Tod war der Beginn der zehn schwierigsten Jahre in der Geschichte der noch jungen Republik.
Die will ich nicht herbeireden, Gott behüte. Ich frage mich aber, wo die Leidenschaft geblieben ist, die schon in den Zwanzigerjahren große Menschenmassen umgetrieben hat. Wir kennen alle die Filmaufnahmen von den Großdemonstrationen in Berlin, das Gewusel in den Straßen, Aufmärsche, Fahnen, Prügeleien, dicht gedrängte Männer auf schlecht gesicherten Ladeflächen. Das waren nicht nur die Nazis. Kommunisten, Sozialdemokraten waren unterwegs für oder gegen etwas, ganz oft gegeneinander. Wohin sind die Menschen verschwunden? Warum sieht man sie nur noch auf der Fanmeile oder im Stadion? Alle vertröpfelt in Ich-AGs ohne Bezug zu ihrer Umwelt, jeder für sich?
Immer weniger Menschen gehen wählen. Die Mitgliederzahlen der großen Parteien schrumpfen. Wer fühlt sich zuständig für das Gemeinwesen, in dem er lebt? Dieselben Fragen seit Jahren, ich kann sie nicht mehr hören. Man sollte, man könnte, man müsste. Eine Gesellschaft im Konjunktiv. Und wer macht? Im Zweifel die anderen: die Neonazis, Scientology, die Rattenfänger in den fundamentalistischen Gruppen. Aber auch die Aufpasser im Staatsapparat, die „zu unserem Schutz“ unsere Freiheit zerbröseln. Das war zu RAF-Zeiten so, das ist auch heute so. Allerdings war damals die Wachsamkeit bei Otto Jedermann stärker ausgeprägt, viele Otto Jedermanns haben nicht zugelassen, dass der Staat vollends zu dem Monster wurde, in das die RAF ihn verwandeln wollte.
Erinnert sich jemand an Klaus Traube? Ein Atommanager, den der Verfassungsschutz 1975/76 verdächtigte, mit der RAF zu sympathisieren. Er wurde Opfer eines Lauschangriffs - Riesenskandal! Regierungskrise. Der honorige Werner Maihofer, verantwortlicher Innenminister, trat zurück. So was gab es tatsächlich. Heute ventiliert der verantwortliche Innenminister Wolfgang Schäuble klammheimliches Durchforsten privater PCs auch ohne richterliche Anordnung. Hat jemand was von Rücktritt gehört? Da wird der Berliner Stadtsoziologe Andrej H. verhaftet, weil in seinen Arbeiten das Wort „gentrification“ vorkommt. Nicht gesetzlich geschützt, jeder kann es benutzen. Das taten auch drei Mitglieder der sogenannten militanten Gruppe, die sich dem Blödsinn des Autoabfackelns verschrieben haben sollen. Das reichte bei Andrej H. für den Vorwurf der terroristischen Kumpanei und mehreren Wochen U-Haft. Zuständig ist die Generalbundesanwältin Monika Harms. Haben wir etwas von Rücktritt gehört?
In beiden Fällen, das muss man fairerweise sagen, wurde heftig protestiert, und noch ist beides nicht ausgestanden. Aber was ist mit dem Bremer „Taliban“ Murat Kurnaz, den die Bundesregierung vier Jahre lang in Guantánamo verkommen ließ, weil sie den jungen Türken nicht im Land haben wollte? Der deutsche Libanese Khaled al-Masri aus Ulm, wahrscheinlich von der CIA nach Afghanistan verschleppt gewesen, ist auch nicht Gegenstand übertriebener staatlicher Fürsorge hierzulande. Kann es also sein, dass wir den Staat, wo es nottut, bremsen müssen, aber wenn es vorwärtsgehen soll, dies besser selber machen? Nicht ganz: Die Kinderbetreuung der Frau von der Leyen ist ein Staatsprogramm, muss es sein. Sonst funktioniert es nicht. Renate Schmidt hatte das alles vorgedacht, aber die hatte einen anderen Kanzler.
Es gelingt Erstaunliches, wenn wir selber drangehen. Hier in meiner Nachbarschaft macht eine Bürgerinitiative Front gegen die ausufernde Parkraumbewirtschaftung. Halten wir die Daumen, dass es gelingt. Ein so kompliziertes Verfahren überhaupt anzugehen ist mühsam, kostet Arbeit. Die machen das. Respekt. In Halberstadt, wo die Neonazis unlängst eine Theatertruppe bei der Premierenfeier überfallen haben und die Staatsgewalt sich lächerlich verhalten hat, lässt jetzt der Intendant - “Auf die Plätze!“ - die Nazi-Sammelstellen mit Kunst besetzen, damit der Bürger sich dort frei bewegen kann. Respekt. Lea Rosh mag für mancher Menschen Nerven beschwerlich sein, aber guck mal, was sie da hingestellt hat mit dem Holocaust-Mahnmal in Berlin. Die Frauenkirche in Dresden. Keiner hat diesem Trümmerhaufen anderes zugetraut als Nostalgie. Jetzt steht sie da, wiedererstanden mit Geld aus aller Welt. Private Menschen haben dieses gigantische Vorhaben gestemmt - gibt es eine Steigerung für Respekt?
Das kriegen Menschen nicht gebacken ohne Zeitungen, und das gilt wechselseitig. Leser brauchen die Analyse im gedruckten Text - Internet und Fernsehen können das nicht leisten. Niemand, behaupte ich, setzt sich mit Kaffeebecher und Croissant neben seinen PC, um Onlinedienste zu durchforsten. Nirgendwo in der U-Bahn siehst du frühmorgens anderes als Zeitungen. Und umgekehrt: Was immer an privaten Initiativen Erfolg haben soll, braucht Öffentlichkeit. Wo denn, wenn nicht in der Zeitung? Der Leser fällt darüber her. Da muss er nicht suchen unter 4 oder 40 Millionen Einträgen im Internet. Zeitung der Zukunft heißt: „Keine Zukunft ohne Zeitung“.
Das gilt auch für die Panter der taz, auf deren Seite wir uns hier schließlich befinden. Was wüssten wir über sie, wenn sie nicht vorkämen, hier in ihrer Zeitung? Hunderttausend im Bonner Hofgarten sind beeindruckend. Gebracht haben sie nichts, die Pershing II-Rakete wurde stationiert. Die Panter und ihresgleichen sind nicht sichtbar. Sie tragen keine Fahnen, singen keine Lieder, blockieren weder im Laufschritt oder sonst wie öffentliche Straßen. Aber sie machen. Wo sie sind, bewirken sie etwas. Darüber musste geschrieben werden. Respekt und Verbeugung für sie - und ihre Zeitung. Auch von mir. Wibke Bruhns
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