Die Bildsprache: Warum sammeln Sie eigentlich sinnentleerte Fotos, Herr Piller?

PETER PILLER ist Flaneur, Archivar, Alltagsethnograf. Vor allem ist der 1968 im nordhessischen Fritzlar geborene Künstler ein listiger Betrachter vordergründig unscheinbarer Perspektiven. Sein Archiv von Zeitungsfotografien umfasst etwa 7.000 Aufnahmen, die der in Hamburg lebende Künstler zu Serien wie „Geld zeigen“ oder „Autos berühren“ ordnet. Seit dem vergangenen Jahr begleitet Piller eine Professur für“Fotografie im Feld zeitgenössischer Kunst“ an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. 2006 ist auch Band 10 der Reihe „Archiv Peter Piller“ erschienen (Revolver Verlag). Derzeit läuft Pillers Ausstellung “Ästhetik und Langeweile“ im Kunsthaus im schweizerischen Glarus (noch bis 18. November). Seine Homepage: www.peterpiller.de

taz: Heute schon Zeitung gelesen, Herr Piller?

Peter Piller: Ich habe nicht einmal eine Tageszeitung abonniert, nur die Wochenendausgabe der Süddeutschen. Aber die bestelle ich jetzt wieder ab, weil sie mir immer geklaut wird. Eigentlich bin ich auch gar kein Zeitungsleser, ich lese lieber Romane.

taz: Das wird alle überraschen, die mit Ihrem Werk vertraut sind. Schließlich ist das Ihr Genre: die Typologisierung teilweise grotesk botschaftsarmer Lokalzeitungsbilder. „Autos berühren“ heißt etwa eine Ihrer Serien. Zu sehen sind Menschen, die genau das tun: Autos berühren.

Ich sollte an dieser Stelle erzählen, wie ich überhaupt zu meinem Archiv gekommen bin. Während meines Kunststudiums in Hamburg hatte ich diesen Job in einer Medienagentur, der im Grunde aus nichts anderem bestand, als die Platzierungen von Anzeigen in Tageszeitungen zu überprüfen. Ich saß also da, vor hunderten von Lokalblättern, und bemerkte plötzlich diese ganz eigene, eigenartige Bildsprache. Rückblickend denke ich, was für eine privilegierte Situation das doch war, all diese Zeitungen vor mir zu haben und die Arbeitszeit auch noch bezahlt zu bekommen. Ich habe den Job dann auch sieben Jahre lang gemacht.

taz: Das Randständige durchzieht Ihr Oeuvre ohnehin wie ein roter Faden.

Mich hat irgendwann die Peripherie interessiert. Ich war damals neu in Hamburg und habe plötzlich gemerkt, dass ich St. Pauli oder Altona, die üblichen Viertel halt, gar nicht mehr verlasse. Dann habe ich angefangen, ganz bewusst Stadtrandwanderungen zu unternehmen. Einmal rund um Hamburg, später dann rund um Bonn oder das Ruhrgebiet. Die Wanderungen habe ich in Erinnerungszeichnungen und Fotografien dokumentiert. Und plötzlich sah ich all diese Bilder in den Lokalzeitungen, und sie sahen genauso aus wie meine Aufnahmen.

taz: Was sich besonders eindrücklich in Ihrer Serie „Noch ist nichts zu sehen“ materialisiert. Gemeint sind Zeitungsfotos, die sogenannte Bauerwartungsflächen abbilden. Orte also, an denen buchstäblich noch nichts ist.

Vielleicht ist diese Serie die Essenz meines Archivs. Und sie erzählt viel über die Arbeitsweise in Lokalredaktionen. Der professionelle Fotoreporter wurde längst eingespart, und jetzt zieht der Redakteur oder der freie Mitarbeiter eben selbst los, um seine Artikel zu bebildern. Auch wenn es, wie im Falle der Bauerwartungsflächen, eigentlich gar nichts abzubilden gibt. Vieles, was ich gesammelt habe, ist ja nah dran an der Amateurfotografie. Viel Versehentliches und Halbfertiges kommt da rein. Vieles, was sich unbeabsichtigt ins Bild einschleicht.

taz: Es sind vordergründig beliebige Bilder, die irgendwann eine absolut einnehmende Lakonie verbreiten.

Langeweile spielt für mich eine große Rolle. Ich muss mich mit einer Quelle erst ganz entsetzlich langweilen, bis ich dann tatsächlich etwas sehe. Bis mich die Parallelen in den Bildern finden und ich meine Serien und Reihen forme. Oft liegen hunderte von Aufnahmen eine Woche lang vor mir und es passiert erst mal gar nichts.

taz: Obwohl es naheliegend wäre, hat Ihre Arbeit nichts Besserwisserisches. Sie führen niemanden vor. Sie bilden nur ab, machen sichtbar.

In der Tat träume ich schon seit Jahren davon, einmal selbst für einen Monat in das Innenleben einer Lokalredaktion einzutauchen. Ich würde gerne wissen, ob ich mich bei einer Scheckübergabe oder einer Siegerehrung nicht doch genauso verhalten und die gleichen austauschbaren Bilder mit in die Redaktion bringen würde.

taz: Sie sagen „austauschbar“. Konstruieren die Lokalzeitungen Kategorien wie „Heimat“ oder „Region“ also mindestens genauso sehr, wie sie sie andererseits abbilden und repräsentieren?

Auf jeden Fall. Jedes Bild stellt ja eine Wirklichkeit her. Aber auf diese Fotografien passt das auf besondere Weise. Eine meiner Sammlungskategorien sind Vandalismusbilder. Und plötzlich habe ich gemerkt, dass 80 Prozent meiner Vandalismusbilder aus derselben Zeitung, der Magdeburger Volksstimme, stammen. Natürlich wäre es Blödsinn, daraus zu schließen, dass Magdeburg in diesem Maße überproportional von Vandalismus betroffen wäre. Aber es liegt der Zeitung offensichtlich daran, genau dieses Bild zu vermitteln.

taz: Das Zeitungssterben ist ein großes Thema. Welche Bilder des Regionalen werden denn künftig vermittelt?

Ich habe mir kürzlich den Spaß gemacht, mir noch einmal drei Kisten voller Regionalzeitungen nach Hause zu holen. Plötzlich war da kaum mehr ein Schwarzweißbild zu finden. Außerdem gab es ja früher, noch in den Achtziger-, Neunzigerjahren, in jedem Dorf eine Zeitung mit ihren drei, vier Regionalseiten. Heute werden die Regionen größer, da sterben eine Menge Bilder mit. Ich fürchte, vieles von dem, was mich da interessiert, wird bald verschwinden.

taz: Also künftig keine Siegerehrungen und keine Bauerwartungsflächen mehr?

Zumindest immer seltener in der klassischen Lokalzeitung.