Am falschen Ort

Der erste Schlagstockeinsatz am Schwarzen Donnerstag erfolgte nach neun Minuten. Der Polizist traf einen unbeteiligten Rechtsanwalt. Die Justiz ließ sich mit dessen Strafanzeige gegen den Beamten viel Zeit

von Meinrad Heck

Ohne diese Schokocroissants wäre alles vielleicht ganz anders gekommen. Die süßen Stückchen beim Bäcker ein paar Schritte weg vom Amtsgericht sind für Axel Seubert immer noch „das Leckerste“, was es gibt. Und diese Leckerei hat er sich an diesem Vormittag verdient. Rechtsanwalt Axel Seubert nimmt nach zwei anstrengenden Verhandlungsstunden im Amtsgericht diesen Umweg zum Bäcker und macht sich danach zu Fuß durch den Schlossgarten auf den Weg zu seiner Kanzlei. Er wird in wenigen Minuten zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Ohne den Umweg wegen der Croissants wäre er mit der U-Bahn gefahren.

Aber der Jurist freut sich auf den Fußmarsch. Er sagt, das seien die einzigen 15 Minuten am Tag, in denen er wirklich Ruhe habe. Und dieser Tag verspricht ein schöner zu werden, glaubt er. Es ist 10.45 Uhr am Vormittag des 30. September 2010, als er im Schlossgarten ankommt, und Axel Seubert hat nicht die leiseste Ahnung, dass in genau diesen Sekunden der Polizei des Landes Baden-Württemberg die Zeit davonrennt.

Die Beamten haben einen Plan. Sie wollen mit ein paar Hundertschaften blitzschnell einen Gitterzaun aufbauen, um in der folgenden Nacht die ersten Baumfällungen für Stuttgart 21 abzusichern. Aber die Parkschützer sind schneller. Eine Viertelstunde, bevor die erste Hundertschaft den Park erreicht, lösen sie per SMS ihren Alarm aus. Der als Überraschung geplante Polizeieinsatz ist gescheitert, bevor er begonnen hat. In diesen Sekunden kommt den Beamten der Einheit BW 213 II der Jurist Axel Seubert in die Quere.

Vier Minuten braucht der Rechtsanwalt, bis er die kleine Gruppe mit ein paar Demonstranten und Polizisten um 10.49 Uhr erreicht. Noch gibt es keine Blockaden, die mit Polizeigewalt hätten aufgelöst werden müssen. Kein Beamter erteilt ihm einen sogenannten Platzverweis. Weit und breit keines der Deeskalationsteams, die, wie es später heißen wird, angeblich von Beginn an anwesend, aber von vermeintlich gewaltbereiten Demonstranten zurückgewiesen worden seien. Da war, sagt Seubert, „einfach nichts, gar nichts“.

Neun Minuten nach Beginn des Polizeieinsatzes am Schwarzen Donnerstag im Schlossgarten zu Stuttgart trifft der erste Polizeiknüppel. Axel Seubert erhält einen ersten Schlag auf die Schulter und einen zweiten auf die Brust. Den zweiten Schlag dokumentieren eine Videokamera und ein Fotojournalist. Seubert hat Schmerzen. So starke Schmerzen, dass er die folgenden Arbeitswochen in seiner Kanzlei nur mit Medikamenten übersteht.

Aber der Jurist kennt die Spielregeln. Er weiß, was geht und was nicht. Was soll er wem wie beweisen? Von dem Foto und der Videokamera weiß er nichts. Also verzichtet er auf eine Strafanzeige. Vorerst.

Keine Veranlassung gegeben, von einem Angriff auszugehen

Kurz vor Weihnachten 2010 traut der Rechtsanwalt seinen Augen nicht. Er sieht im ZDF eine Geschichte über den 30. September. Eine Videosequenz nach der anderen, und eine kommt ihm ziemlich bekannt vor. Seubert sieht einen Polizisten, der zuschlägt, und er sieht … sich selbst. Jetzt hat er einen Beleg, und jetzt wird er Strafanzeige erstatten.

Er schreibt an die Staatsanwalt Stuttgart und berichtet von der Szenerie. Die beiden Schläge gegen Schulter und Brust seien „grundlos“ gewesen, wie er sagt, denn „eine Aufforderung, den Platz zu räumen, habe ich weder wahrgenommen noch wurde diese ausgesprochen“. Er habe lediglich versucht, „schnellen Schrittes den Schlossgarten zu verlassen. Auch habe ich keinerlei Veranlassung gegeben, dass der Polizeibeamte in irgendeiner Art und Weise davon ausgegangen sein muss, dass ein Angriff meinerseits zu erwarten sei.“

Das Video zeigt die Nummer der Polizeieinheit. Es wird dennoch neun Monate dauern, bis Axel Seubert nach mehreren Nachfragen ein Zwischenergebnis erfährt. Die Staatsanwaltschaft spricht selbst von einem sogenannten unmittelbaren Zwang, den ein Beamter gegen den Juristen „angewendet“ habe. Sie braucht trotz Einsatznummer besagte neun Monate, um die Identität des Beamten zu ermitteln. Vor knapp zwei Wochen hat Axel Seubert erfahren, dass der Name den Ermittlern zwischenzeitlich bekannt ist, der Beamte aber erst noch gefragt werden müsse, ob er sich dazu äußern wolle, weswegen Seubert „um Geduld“ gebeten wird. Die Staatsanwaltschaft lässt ihn wissen, mit einem Abschluss des Verfahrens sei im November zu rechnen.

Der Jurist Axel Seubert ist Profi. Er sagt, dass es mal eine Rangelei im Eifer des Gefechts gibt, „das häng ich nicht so hoch“. Aber an jenem Tag, dem 30. September 2010, neun Minuten nach dem hektischen Beginn des Polizeieinsatzes, „da kam die Staatsgewalt und hat schlicht draufgedroschen“.