: Ort für besondere Menschen
COMMUNITY I Ein möglichst selbstständiges Leben führen behinderte Menschen in den dorfähnlichen Camphill-Gemeinschaften – wie im Lehenhof auf der Schwäbischen Alb
■ Er war Kinderarzt, Heilpädagoge, Anthroposoph und Autor: Karl König (1902–1966). Wegen seiner jüdischen Herkunft musste der Österreicher 1939 emigrieren: So entstand auf dem Camphill-Anwesen in Schottland, dem früheren Versteck der letzten Tempelritter, eine heilpädagogische Gemeinschaft namens „Camphill-Bewegung“. Heute gibt es weltweit 100 Häuser, die die Ideen und Impulse des Gründers leben und weiterentwickeln: zwölf in Deutschland, darunter sechs Lebensgemeinschaften (Alt-Schönow, Hausenhof, Hermannsberg, Königsmühle, Lehenhof, Sellen), drei Schulgemeinschaften (Brachenreuthe, Bruckfelden, Föhrenbühl), daneben das Thomas-Haus, die Werkstatt am Goldbach und das Camphill-Seminar. In Berlin befinden sich allein zwei Einrichtungen: das Thomas-Haus in Zehlendorf sowie Camphill Alt-Schönow. (bh)
VON BIRGIT HEITFELD
Wenn Albrecht Römer ein Hippie wäre, würde man vielleicht etwas salopp sagen: Der ist wohl in Deggenhausertal hängen geblieben. Aber er ist Anthroposoph, und auch wieder nicht, nicht nur. Denn Schubladen und Kategorien missfallen Albrecht Römer sehr. Vor 36 Jahren kam er als Zivildienstleistender erstmals nach Deggenhausertal, um in der Dorfgemeinschaft Lehenhof mit 300 Menschen mit und ohne Behinderung ein alternatives Lebenskonzept auszuprobieren. Er machte eine Landwirtschaftslehre, kam dann nach fünf Wanderjahren zurück zum Lehenhof.
Heute ist der Landwirtschaftsmeister einer von vier geschäftsführenden Vorständen des Camphill Lehenhof Dorfgemeinschaft e. V. und kümmert sich um strategische Fragen, Bauprojekte, die neue Lehenhof-Stiftung oder das „Zukunftsbild 2020“, das aber schon eher stehen soll. Denn 2015 feiert diese Camphill-Community im Hinterland des Bodensees, die erste von zwölf Einrichtungen in Deutschland, ihr 50-jähriges Bestehen.
Wieso er so lange geblieben ist? „Am Lehenhof ist kein Jahr wie das andere“, sagt Römer. „Ich habe hier meinen Platz gefunden. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Ziele sinnvoll sind, dass ich mit meinen Fähigkeiten und auch als Mensch gefragt bin.“ Römer führte mit seiner Frau zusammen 20 Jahre einen der beiden Bauernhöfe samt zugehöriger Hof-Hausgemeinschaft. Seit nun zehn Jahren leben beide in einer Hausgemeinschaft und teilen mit acht Menschen mit Behinderung ein Dach.
„Bei Heilpädagogik denken viele an Kinder und Erziehung. Unser Konzept richtet sich an Erwachsene und lässt sich am besten als sozialtherapeutisch beschreiben. Wir wollen eine Umgebung schaffen, in der Menschen mit Einschränkungen – also alle – sich auf ihrem Lebensweg entfalten können. Es geht darum, nicht nur zu begleiten, sondern etwas zusammen zu machen – auf Augenhöhe.“ Die Werkstätten auf dem Lehenhof bieten 150 Arbeitsplätze. Hier werden Feueranzünder fabriziert, Abfüll- und Etikettierarbeiten erledigt, und 100.000 Schulhefte pro Jahr für Waldorfschulen hergestellt. Auf 90 Hektar wird biologisch-dynamische Landwirtschaft betrieben, vor allem Milcherzeugung für die eigene Hofkäserei. In der Bäckerei verlassen täglich frische 500 Brote den Ofen, die dann im Dorf, in der Region und über einen Bio-Großhändler verkauft werden. In der dörflichen Umgebung gibt es vielfältige Kontakte und Beziehungen: „Unser Käser zum Beispiel wohnt mit seiner Familie in im Dorf“, sagt Römer. Wie viele andere, die zwar auf dem Lehenhof arbeiten, aber ihr ganz eigenes Privatleben haben.
Wer in diesem unkonventionellen Umfeld wirken möchte, kann sich im Camphill-Seminar in Frickingen am Bodensee zum staatlich anerkannten Heilerziehungspfleger ausbilden lassen. Den Abschluss an der Fachschule erwirbt man in drei Jahren. Auf dem Lehenhof können Schüler den Praxisteil absolvieren. „Es ist von Vorteil, wenn man vorher einen Beruf gelernt hat“, sagt Römer, „zum Beispiel in der Haus- oder Landwirtschaft, Krankenpflege oder ein Handwerk.“ Auch akademische Berufe wie Sozialpädagogik seien gefragt.
„Viele haben ein festes Bild im Kopf, mit fixem Anforderungsprofil, was Camphill bedeutet und leisten muss“, sagt Römer. „Da müssen wir passen. Camphill ist nicht wie ein Franchise-Programm, das man einfach kopiert, keine Uniform, die man sich umhängt. Jede Einrichtung ist individuell.“ Die Wurzeln der Camphill-Arbeit liegen, so Römer, in der christlichen Ethik, der Anthroposophie Rudolf Steiners und den heilpädagogischen Impulsen Karl Königs. „Die Grundidee ist, dass der Mensch stets im Werden begriffen ist. Wir setzen keine Richtlinien um, sondern schöpfen aus der Quelle. Identität entsteht ja erst im Tun.“
In vieler Hinsicht bildet die Gemeinschaft auf dem Lehenhof die bundesdeutsche Gesellschaft als Mikrokosmos ab. „Der Altersdurchschnitt bei uns ist über 50 Jahre“, sagt Albrecht Römer. Fragen nach Altersvorsorge, Pflege und Sterbebegleitung stellen sich auch hier, neue Konzepte und Nachwuchs werden gesucht. Die neue Lehenhof-Stiftung soll auch einen Fonds bereithalten, der Menschen mit Behinderung im Alter unterstützt. Denn formal gehen auch sie mit 65 in Rente – und die Arbeitsprämie von mindestens 120 Euro pro Monat aus der Werkstattarbeit fällt dann weg. Übrig bleibt ein Taschengeld, das zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse oftmals nicht ausreicht.
■ Infos: www.lehenhof.de, www.camphill-seminar.de
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