Das Ungesagte sagen

KRAFT Gisela Wülffing ist eine Frau der zweiten Reihe. Dabei hat sie Rassismus und sexuelle Gewalt zum Thema der Politik gemacht

Wülffing hat die Alten im Ort interviewt. Für ein Buch, in dem es Freundschaft und feindliche Bomber gibt

AUS STEINEBACH AN DER WIED WALTRAUD SCHWAB

Für den Bruchteil einer Sekunde zögert Gisela Wülffing, bevor sie zur Begrüßung die Hand gibt. Auch beim Fahrstuhl vom Bahnsteig zur Straße hält sie inne, bevor sie den Knopf drückt. Selbst vor ihrem Auto, mit dem sie nach Montabaur gekommen ist – „das ist das Auto“ –, stockt sie einen Moment, bevor sie die Tür öffnet.

Das Innehalten kommt von der zweiten Reihe, in der Gisela Wülffing immer schon steht. Es mache ihr nichts aus. „Im Gegenteil, das ist für mich der richtige Platz.“ Sie sagt es und lacht dabei, dass sich die Grübchen in den Wangen zeigen. Die Augen aber, die schützt sie hinter der Brille und verschattet sie mit den Haaren, die ihr der Wind dicht und dunkel ins Gesicht weht.

Die in der zweiten Reihe nehmen sich zurück und gestalten trotzdem. Diese Rolle hat Wülffing gelernt. Schon als Kind. Des Vaters wegen. „Ein Blender war er“, sagt sie leise. Ein Mann mit zwei Gesichtern. Das eine: Bauunternehmer, Sohn eines bankrotten Bankiers. Die großbürgerliche Attitüde sei ihm geblieben. „Tennis spielen. Auto fahren.“ Dazu noch in der SS-Leibstandarte Adolf Hitler. „Das ist doch kein Pappenstiel.“ Selbst entrüstet klingt ihre Stimme sanft.

Die andere Seite des Vaters: Er haust mit seiner Frau und fünf Kindern in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer unter einem Dach in Bonn, kein fließendes Wasser, kein Bad, keine Toilette, Wärme vom Holzherd. „Wir haben sehr ärmlich gelebt.“ Der Satz ist zu weich. „Wenn ich nicht weich bin, fühle ich mich gleich sehr hart“, antwortet sie. Klar ausgesprochen aber läuft es darauf hinaus: Der Vater war ein Despot. Oft versuchte Wülffing, ihre Mutter vor dem Vater zu schützen. Das Mädchen hat den Kopf hingehalten. Manchmal hat er auch den Körper genommen. Als er seine Frau und die Kinder verlässt, ist sie zehn Jahre alt.

Sie sitzt auf einer ausgeblichenen Betonterrasse in einem Ausflugslokal am Dreifelder Weiher im Westerwald und es war nicht ihre Absicht, von allem, was sie in 65 Jahren erlebte, das mit dem Vater zu erzählen. Dass es dazu kam, hat mit dem Buch über das Dorf am See zu tun. Steinebach an der Wied heißt es. Ein 650-Seelen-Nest, hingetupft in die hügelige Landschaft. Die Häuser stehen wild im kleinen Tal, als hätte jemand von einem der Hügel aus, dem Hartenfelser Kopf vielleicht, den nun Windräder zieren, eine Handvoll Steine runtergeworfen. Dort, wo sie liegen blieben, wurde gebaut.

Wülffing hat die Alten im Dorf interviewt und das, was sie sagen, aufgeschrieben. „Wie es war übers Jahr“ heißt das Erinnerungsbuch, in dem Kindheit und Pferdegespann und Großfamilien vorkommen, Jugend und wehende Röcke. In dem „Soldat“ und „in Stellung sein“ gesagt wird. In dem es Freundschaft gibt und feindliche Bomber und Felder und Tiere und Arbeit. Ein Und-und-und-Leben.

Wülffing hat die Leute reden lassen. Was nicht erzählt wird, fordert sie nicht ein. Das mit der jüdischen Familie etwa, das mit Hitlers Geheimwaffe, die im Steinebacher Wald gebaut wurde. Solche Themen streifen die Alten nur, um wieder von einem Alltag zu erzählen, den sie – anders als das Weltgeschehen – kontrollieren können. „Ich wollte den Leuten eine Stimme geben“, sagt Wülffing. Das Buch ist ein Kleinod fürs Dorf, weil es ihm ein Gedächtnis gibt.

Wülffing hat Willi, dem Wirt des Lokals am See, ein Exemplar vorbeigebracht, weil er Geld gab für den Druck. „Wo ein Willi ist, ist auch ein Bier“, steht auf einem Schild an der Theke. Er blättert das Buch durch, schaut die Bilder an. „Da, die Lydia. Und die Ilse Knie.“ Und ein paar Seiten weiter: „Der Rudi Faust. Der erzählte immer, dass er keine Schuhe zur Konfirmation hatte.“ Auf den historischen Fotos, auf denen die Alten ganz jung sind, erkennt er sie. „Die ale Leit.“ Er will das Buch lesen, wenn er dazu kommt.

Steinebach ist für Wülffing zu einer Heimat geworden, in der sie ja sagen kann. Dabei hat sie ihr schwieriger Start ins Leben zuerst in die Verneinung getrieben. In welche? Die in der zweiten Reihe. Sie lässt sich mitziehen von denen, die ausbrechen. Hauptsache, ausbrechen. Sie beginnt eine Lehre, dann trifft sie ihren Mann – einen Straßenkünstler. Sie trampt mit ihm durch Europa. Und dem Kind, das bald kommt. Geld verdienen sie mit Musik. „In unseren Koffern mehr Bücher als Kleidung.“

Ende der Sechziger ziehen sie nach Frankfurt. Sie macht das Abitur nach, lässt sich von der Studentenbewegung elektrisieren, trennt sich vom Mann, lebt mit dem Kind in Wohngemeinschaften, wird Teil der linken Bewegung und beginnt mit 27 ihr Studium. „Ich war so stolz. Endlich studieren.“ Philosophie. Literatur. Aber sie ist auch in der Roten Hilfe. „Studium? Was willst du mit dem bürgerlichen Scheiß“, war gängige Ansicht in der Szene.

„Ich habe überlegt, wie ich aus der Zwickmühle rauskomme.“ Es gelingt ihr halbwegs: Gerade war der als Terrorist inhaftierte Holger Meins im Hungerstreik gestorben. „Gut, dann studiere ich Jura, um die politischen Gefangenen zu verteidigen.“ Diesem Argument konnten sich die GenossInnen nicht verschließen. Damals flossen in die linken Szenen viele Strömungen ein – von der RAF bis zu den Grünen, Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung auch. Wülffing jobbt neben ihrem Studium bei einem linken Magazin. Darüber ist sie in die Gründung der taz involviert. Für die taz gibt sie bald noch einmal ihren Lebensentwurf auf. Eigentlich wollte sie aufhören, sich in der Frankfurter Gruppe zu engagieren, die die Zeitungsgründung unterstützte, wollte ihr Jura-Studium beenden. Christian Ströbele und andere überreden sie, weiterzumachen. Sie fürchten, dass das Zeitungsprojekts auseinanderfliegt ohne sie. Das Studium beendet sie nicht.

Wülffing springt von einer Episode in ihrem Leben zur nächsten. Den roten Faden sollen andere spinnen. Nach ein paar Jahren bei der taz geht sie zum Pflasterstrand – dem linken Frankfurter Stadtmagazin. 1986 kommt es in Hessen zur ersten rot-grünen Landesregierung. Wülffing wird Pressereferentin der neuen Frauenbehörde, dann Mitarbeiterin bei der Grünen Waltraud Schoppe im Bundestag. Nach der Wiedervereinigung geht sie zurück in die hessische Frauenbehörde. Wülffing ist eine der Pionierinnen, die dafür sorgt, dass sexuelle Gewalt, Rassismus, Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper in der Politik und den Medien Thema wird – die letzten Jahre von Steinebach aus. „Pflasterstrand, Pflasterstein, Steinebach“, sagt sie, „ich finde das logisch.“

In Steinebach landet sie, weil ihre Mutter zuvor dorthin gezogen war. „Vielleicht wollte ich ihr nah sein.“ Die Mutter war Norwegerin. Steinebach habe sie an ihre Heimat erinnert, denn dorthin zurück konnte sie nicht. Wülffings Mutter war zur Kollaborateurin der Nazis geworden, weil sie einen Traum hatte: Sie wollte Krankenschwester werden. Nachdem die Nazis Norwegen besetzten, las sie einen Aushang, auf dem mit einer Ausbildung zur Krankenschwester geworben wurde. Sie meldete sich. „So habe ich Europa kennengelernt“, soll sie immer gesagt haben. Mehr sagte sie nicht. „Warum hat sich meine Mutter bloß nie damit auseinandergesetzt?“

Auch der Vater setzt sich nicht mit der Vergangenheit auseinander. Als Gisela Wülffing dreißig ist, sucht sie ihn. Sie will ihn konfrontieren. Mit seiner Gewalttätigkeit, seinem Missbrauch, seiner SS-Vergangenheit. Er stirbt, bevor sie ihn fragen kann.