WIR:HIER

Kapitel 12

Es wäre ihr lieber gewesen, hätte sich die Tunnelsache als dummer Spruch herausgestellt

Matteo und Laura zogen sich gegen zwei Uhr morgens vom allgemeinen Partytrubel in eine ruhige Ecke des großen Gartens zurück.

„Was war los mit dir auf dem Dach? Warum bist du so wütend geworden?“, fragte Laura, kaum hatten sie sich hingesetzt.

„Nichts war los. Ich habe nur keine Lust, über meine Alte zu reden.“

„Okay. Hättest du auch einfach sagen können, anstatt mich so anzublöken. Lässt die sich scheiden? Oder hat deine Mutter einen Neuen, der blöd ist?“

Matteo verdrehte genervt die Augen.

„Die ist längst geschieden, und außerdem ist das alles …“, er fuchtelte mit den Armen in der Luft, „ … viel komplizierter, als du es dir vorstellen kannst. Also lass es einfach.“

„Reg dich ab. Was anderes: Das mit den Tunneln, das hast du dir ausgedacht, oder? Da gibt es keine unterirdischen Labyrinthe.“

„Doch, das stimmt wirklich. Glaube ich. Wir haben nur nicht an der richtigen Stelle gesucht.“ Matteo zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß auch nicht.“

„Sicher, dass dein Cousin keinen Mist erzählt hat? Und warum ist der nicht selbst da runter, um die Nazischätze zu suchen? Das ist doch total unlogisch.“

„Würde er bestimmt gern. Kann er aber nicht. Der sitzt seit vier Wochen im Knast. Die Bullen haben eine Razzia bei ihm gemacht und Waffen gefunden.“

„Echt Waffen? Krass. Wie ist der denn drauf?“

„Ja, keine Ahnung. Ist halt ein Kevin. Aber er hat Pläne von den Nazitunneln. Die waren bei der Razzia nicht in der Wohnung, die gefilzt wurde, sondern in seinem alten Kinderzimmer bei meiner Tante gebunkert.“

„Okay. Und weiter?“

„Na ja, meine Tante ist seit einer Woche im Urlaub. Und jetzt rate mal, wer bei ihr die Blumen gießt und darum einen Schlüssel für die Wohnung hat? Allerdings nur noch heute, die kommt morgen am Nachmittag zurück.“

„Du meinst, wir sollten …“

„Ja, oder nicht?“

„Jetzt? Es ist halb drei. Wie sollen wir überhaupt nach Berlin kommen? Es fährt doch keine Bahn mehr.“

Matteo schwieg, tippte in sein Handy und sagte dann: „6 Uhr 13 mit dem Bus vom Töplitz, Dorfstraße bis Golm, von da 7 Uhr 24 Abfahrt Richtung Berlin Hauptbahnhof.

„Zur Bushaltestelle laufen wir zwanzig Minuten oder so, wir müssten also in drei Stunden los.“

Bei dem Gedanken, in einer fremden Wohnung herumzuwühlen, stellten sich auf Lauras Armen die Härchen nach oben, ihr Rücken begann zu kribbeln. Eigentlich wäre es ihr viel lieber gewesen, wenn sich diese Tunnelsache als ein dummer Spruch von Matteo herausgestellt hätte. Die Aussicht, tatsächlich in dunklen Röhren unter der Erde herumzukrabbeln, hatte sie noch gar nicht richtig in Betracht gezogen, bisher war das für sie nur Gerede. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief ein- und ausatmete und dabei das Kinn auf ihre Brust drückte. Ein Trick, den ihre Mutter aus dem Yogakurs, den sie seit Jahren besuchte, beigebracht hatte. „Das hilft, Laura-Schatz. Du musst dir vorstellen, dein Körper sei innen ganz groß und weit und kühl wie ein Tempel und dann – atmen und dabei das Kinn nach unten pressen.“

Das Atmen half überhaupt nicht. Aber dass ihre Mutter ständig solchen Esoterikunsinn predigte: Dein Körper ist dein Tempel! Der Mensch ist ein Sandkorn, und die Vögel zeigen uns den Weg – das regte Laura schon wieder so auf, dass ihr kurzer Panikanfall wie weggeblasen war.

Zwei Stunden später kniete Matteo leise flüsternd neben ihr und rüttelte an ihrem Arm. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Aus einem Anfall der Vernunft heraus hatte sie versucht, nicht durchzumachen, sondern sich in ihrem Zelt in den Schlafsack gekuschelt. Ihr schossen so viele Gedanken durch den Kopf, dass an Schlaf überhaupt nicht zu denken war. Stattdessen hat sie auf die leisen Stimmen am Lagerfeuer gehört. Und scheinbar war sie darüber kurz eingeschlafen. Es kann nur sehr kurz gewesen sein, denn sie fühlte sich kein bisschen ausgeruht. Matteo hielt in der rechten Hand eine Flasche Bier, in der linken einen Energy-Drink und streckte ihr beide entgegen. Sie setzte sich auf und nahm dankbar einen Schluck vom süßlichen Getränk. Dann schüttelte sie den Schlaf aus ihrem Kopf.

„Wie spät ist es?“

„Kurz nach halb fünf. Du musst noch dein Zelt abbauen, meins hab ich schon.“ Er klopfte auf den dunkelblauen Sack, der neben ihm stand. „Ich helf dir.“

Sie versuchten sehr leise zu sein – eigentlich unnötig. Die anderen schliefen längst oder saßen am Lagerfeuer und stierten nur noch versunken in die Glut. Niemand bemerkte, wie die beiden vom Gelände schlichen.

Laura trug Flipflops und kicherte, als sie mit Storchenbeinen durch das nasse Gras lief. „Das würde meiner Mutter gefallen.“ Matteo sah sie fragend an. „Na, hier“, sie zeigte auf ihre nassen Füße und imitierte die Stimme ihrer Mutter. „Laura, es gibt ein paar Sachen, die muss man im Leben einfach gemacht haben: zum Beispiel im Sommer mit nackten Füßen durch eine taubenetzte Wiese laufen und den Sonnenaufgang beobachten.“ Die hat sogar extra ein Buch dafür: „1000 Sachen, die jede Frau erleben muss, bevor sie stirbt“ oder so.“

Der Bus war bis auf ein älteres Paar mit Fahrrädern und Rucksäcken leer, Laura und Matteo schauten stumm und vom gleichmäßigen Ruckeln wieder schläfrig geworden nach draußen. Rote, rosa und lila Streifen füllten den Himmel, verdrängten nach und nach die Dunkelheit und versprachen einen warmen Tag.

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de