WIR LASSEN LESEN
: Entweihung der Natur

Bernhard Tschofen und Sabine Dettling: „Spuren – Skikultur am Arlberg“. Bertolini Verlag, 356 Seiten, 34 Euro

Die Unberührtheit der Berge wurde für die eigene Exaltiertheit benutzt

Der alpine Skilauf ist endlich auch ein Thema ernsthafter empirischer Kulturforschung. Ein Buch über die Entwicklung des Skilaboratoriums Arlberg beschreibt den Hintergrund, vor dem sich der hysterische Skirennlauf abspielt. Heutzutage besteht der Zauber der winterlichen Berge hauptsächlich in ihrer Entzauberung. Dank der zahllosen, mittlerweile mehrheitlich beheizten Aufstiegshilfen ist das Skifahren zu einem mechanischen, repetitiven Kilometerfressen auf glatt gewalzter Unterlage degeneriert.

Mit den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi ist die Entfremdung zwischen dem Gast und dem Berg ein für alle Mal festgeschrieben worden. Angefangen hat das alles in den 1880ern in der Schweiz und auf dem österreichischen Arlberg, einem Massiv, das Vorarlberg von seinem östlichen Nachbarn Tirol trennt. Die Kulturtechnik des modernen Skilaufs ist zu einem guten Teil auf den Hängen des Arlbergs entstanden. Die Kulturwissenschaftler Sabine Dettling und Bernhard Tschofen haben ein mehrjähriges Forschungsprojekt zur Entwicklungsgeschichte des Skilaufens auf dem Arlberg zu einem fabelhaften Buch zusammengefasst. Es zeigt, warum die sprichwörtliche Bewegung auf „zwei Brettern“ eine derartige Anziehungskraft ausübt und Österreich als industrieller und ideeller Exportartikel dient.

Die Skikanonen wie der legendäre Karl Schranz, der vielleicht größte Rennfahrer des Arlbergs (und intimer Freund des Olympiagastgebers Putin), kommen erst am Schluss des mit Hunderten wunderbarer Fotos ausgestatteten Bandes vor. Die Tempobolzerei drängt sich einmal nicht wichtigtuerisch in den Vordergrund. Andere, auch nicht weniger problematische Aspekte der Skikultur werden ausführlich besprochen. So zum Beispiel die Anziehungskraft der Skidörfer am Arlberg auf internationale Prominenz. Das Buch endet mit einem nachdenklich stimmenden Foto von der Ankunft des persischen Menschenschinders Schah Reza Pahlevi und seiner Frau Farah Diba. Es gehört zu den besten Seiten des vorliegenden Bandes, dass es keine moralisierenden Schlüsse zieht, sondern durch die mit vielen Zitaten aus zeitgenössischen Quellen gestützte vielfältige Darstellung dem Leser das selbständige Denken ermöglicht.

Vordergründig geht es in der Entwicklungsgeschichte des Skilaufs um die Erschließung der Region mithilfe von Sportgeräten, die Menschen seit Jahrtausenden zur Jagd im Winter verwendeten. Der Lilienfelder Erfinder Mathias Zdarsky oder der Nazi-Gegner Hannes Schneider, Erfinder der „Arlberg-Technik“, haben die aus Norwegen importierten Bretter alpintauglich gemacht und einen Kanon an Lehrmethoden entwickelt, um ihre Verwendung allgemein zugänglich zu machen. Filmkünstler wie Arnold Fanck, der Begründer des Bergfilm-Genres, und die Opportunistin Leni Riefenstahl haben die Ästhetik des Skischwungs formuliert.

Der Arlberg wurde zum Ausbildungszentrum der zivilen Weltskilaufgemeinde. Während der Weltkriege wurden dort Tausende Soldaten zu geländegängigen Bergjägern gedrillt. Der Arlberg diente Skipredigern aus Zeitungen und Magazinen als Anschauungsobjekt für ihre Geschichten, die erst die europaweite Öffentlichkeit und damit die Grundlage des Tourismus schufen. Diese Bewegungskultur öffnete den Einheimischen die winterlichen Berge vor ihrer Haustür und zog Gäste aus aller Welt in die „unberührte Natur“. Die Natur wurde durch ihre Begehung und Beschreibung natürlich sehr wohl berührt, verändert, mit tradierbaren Begriffen kodifiziert und in befahrbare Hänge und Gipfel kartografiert. Die Schwärmerei für das „Natürliche“ hatte das Objekt ihrer Schwärmerei im selben Augenblick „entweiht“, da sie dessen Unberührtheit für die eigene Exaltiertheit benutzte. Der Skilauf ist insofern auch eine Sonderform der Bergbegeisterung mit ihren esoterischen bis faschistischen Ideologiesplittern. Und er ist bei aller Schwärmerei für Natur, Luft, Sonne und Körperertüchtigung eine Schöpfung der Moderne. JOHANN SKOCEK