Gut ist, wenn es echt ist

Beim Internationalen Jugendtheaterfestival „Explosive!“ im Bremer Kulturzentrum Schlachthof zeigt sich, dass die Beißhemmung der Kritik gegenüber dem Jugendtheater ein Fehler ist – und dass gerade die soziale Motivation den Theaterprojekten künstlerischen Belang einhauchen kann

von Benno Schirrmeister

Ein Chinaböller ist explosiv. Relativ explosiv. Explosiver zum Beispiel als ein Würstchen oder ein Stück Schokolade. Die Sprengkraft der elften Auflage von „Explosive!“, einem einwöchigen Internationalen Jugendtheaterfestival, das derzeit im Bremer Schlachthof stattfindet, lässt sich so ohne Weiteres nicht bestimmen. Man darf festhalten, dass keinerlei Scheiben zu Bruch gehen. Und dass auf stabile Verbindungen gesetzt wurde: Der Regisseur Jeroen Kriek vom Utrechter Ensemble „Growing Up in Public“ weilt bereits zum vierten Mal bei „Explosive!“ in Bremen, auch der belgische Choreograf Ives Thuwis ist ein wiederkehrender Festival-Gast.

Und er ist gleich doppelt da: Gestern war die Genter Kompagnie „De Kopergietery“ mit einer Eigenproduktion zu sehen, am Samstag zeigte sie eine Koproduktion mit dem Jugendtheater des Düsseldorfer Schauspielhauses. „Sehnsucht“ hieß sie, ein Tanztheater-Bilderbogen, der mit einem Solo von Thuwis beginnt und ebenso endet. Eingerahmt werden damit Aktionen in einem WG-Ambiente: Drei Jungmänner spielen Tischtennis-Rundlauf, während andere Mitglieder der 13-köpfigen Crew sich auf dem Sofa räkeln, hinter spanischen Wänden die Kleidung wechseln oder ein Zigarettchen anzünden. Später gibt es einen verulkten Pas de deux. Das also ist Sehnsucht.

Fünf Länder sind bei „Explosive!“ vertreten: Neben Deutschland sind das Brasilien, Australien, die Niederlande und Belgien. Die Konzentration auf wenige Akteure reduziert Kosten und erlaubt es, die Workshops für TheaterpädagogInnen und LehrerInnen mit vertiefendem Anschauungsmaterial zu versehen: Die wissen genau, wofür sie ihr freies Wochenende opfern, wenn sie sich bei Thuwis „Tanz neu entdecken“-Seminar angemeldet haben. Und das ist ein guter Service: In den Schulen sind darstellende Künste noch eine Randerscheinung. Sicher, es gibt Stimmen, die da ein Umdenken fordern. In Deutschland am lautesten wahrscheinlich die von Wolfgang Schneider: Der Hildesheimer Professor für Kulturpolitik wiederholt seit Jahren, dass „das Fach Theater in die Lehrpläne gehört“ – so, wie es in den Niederlanden und skandinavischen Ländern üblich ist. So, wie Musik und Kunst.

Insofern ist es wichtig, die Hemmschwellen für die Multiplikatoren flach zu halten. Aber Schneider bestimmt eben auch als eine zentrale Funktion solcher Jugendtheater-Festivals die Chance, „eine Woche lang zu schauen, was die anderen machen“. Allerdings ist größtmögliche räumliche Distanz kein Garant für maximale Fremdheit: Aus Sydney nur für einen fünfzigminütigen Auftritt angereist ist das „PACT“-Ensemble. Dessen temporeiche Performance „The Speech-Givers“ enthält allerdings kein Indiz dafür, dass australisches Theater in irgendeiner Weise anders funktioniert als westeuropäisches: Bis auf schwarze Stühle, ein Rednerpult und Wassergläser ist die Bühne leer, statt einer Kulisse sind im Hintergrund 23 DIN-A 4-Blätter angeheftet, auf jedes ist ein anthrazitfarbener Großbuchstabe gepinselt: „LET THE SPEAKER SPEAK TRULY“, steht dort.

Eine Aufforderung, die sich als unerfüllbar entpuppt: JedeR der sieben SpielerInnen zieht ein Waschzettelchen aus Jackett oder Hosentasche, sucht mit Gesten die Aufmerksamkeit zu bannen – und scheitert. Aus unterschiedlichen Gründen: Eine Darstellerin im Büromäuschen-Outfit scheint es zu bereuen, den Schritt aufs Podest gewagt zu haben. Sie blickt auf ihr Manuskript-Zettelchen, dabei knicken, im Wortsinn, ihre Beine ein, sie zieht sich zurück hinter den Stuhl, der Stuhl wandert mit ihr zur Rückwand, er verdeckt sie schließlich ganz. Ein junger Mann, aufgewühlt von seiner Botschaft, reißt sich Sakko und Hemd vom Leib, rudert mit den Armen, gerät ins Schwitzen, schreit kaum noch artikuliert: „You! Me! Love!“ – immerhin, die einzigen erkennbaren Worte, die an diesem Abend auf der Bühne fallen. Scham, Emphase, übertriebenes Geltungsbedürfnis, Aufregung, Sprach-Ekel: Motive der abendländischen Sprachkritik. Man lernt: Die beschäftigen offenbar auch in Australien Jugendliche.

„Natürlich“, sagt Schneider, „muss es sich seiner Zielgruppe bewusst sein. Aber gutes Jugendtheater ist ganz einfach echtes Theater.“ Eine wichtige Klarstellung. Denn: Oft ist Jugendtheater gekoppelt an Sozialprojekte. Für die Wahrnehmung der Gattung ist das mitunter von Nachteil: Es verursacht eine quasi reflexhafte Beißhemmung der Kritik, eine wohlmeinende Intoleranz, die sich im Verzicht auf Wertung äußert und nur so lange hält, wie die vorbestimmte Nische nicht verlassen wird.

Dass das ein Fehler ist, dass gerade die sozial-erzieherische Motivation von Theaterprojekten ihnen künstlerischen Belang einhauchen kann, zeigt sich bei „Explosive!“ gleich doppelt. Denn die Produktionen, die letztlich in Erinnerung bleiben, sind einerseits „Amazonia“ von der „Companhia Aplauso“ aus Rio de Janeiro – ein von den UN und dem brasilianischen Staat gefördertes Sozial-Projekt, das Jugendliche im Hafenviertel von Rio eine vollständige Performance-Art-Ausbildung verschafft. Und eine stark körperbetonte, artistisch-musikalische Bühnensprache entwickelt hat.

Das zweite Beispiel stammt aus Essen. Die Vorlagen für „Homestories“ hat Nuran David Calis aus dem abgewrackten Stadtteil Katernberg gesammelt – zusammen mit Jugendlichen, die sich selbst darstellen. Und die ihre Selbstdarstellung immer wieder durch Überzeichnungen, Songs und absurde Komik brechen, Lächerlichkeit und Tragik zugleich ausloten: Migration, Arbeitslosigkeit, Cliquenbildung fasst der Abend weder als Schicksalsschläge noch als Vorlagen für soziologische Problemstudien. Sondern als Teile einer Lebensform, für die das eigene Quartier zum Synonym geworden ist. Spaßig, unterhaltsam, traurig: Echtes Theater eben.

Letzte Aufführung: „k-Enter-n“, theaterwerkstatt Bremen, Kulturzentrum Schlachthof, heute um 20 Uhr