Notlösung auf halbrechts

Sechs Feldspieler hat eine Handballmannschaft und zwei von ihnen sollten aufgrund des Wurfwinkels idealerweise Linkshänder sein: der Rechtsaußen und der halbrechte Rückraumspieler. Das ergibt einen gewünschten Linkshänder-Anteil von 33 Prozent pro Mannschaft. Nicht einmal halb so hoch ist der Anteil dieser seltenen Spezies an der Gesamtbevölkerung. Logischerweise sind linkshändige Handballer im Moment ungefähr so begehrt wie junge Informatiker mit langjähriger Berufserfahrung. Weil die so schwer zu finden sind, erhält manch einer eine Chance, der schon längst aufs Altenteil aussortiert wurde. So wie der 36-jährige slowenische Halbrechte Renato Vugrinec, den der HSV Handball vor kurzem verpflichtete.

Wenn der aktuelle Deutsche Handballmeister in der laufenden Saison einen Spieler holt, der zuvor bei Al Sadd Doha im Emirat Katar sein sportliches Gnadenbrot fristete, muss die Not groß sein. Und das ist sie in der Tat. Die Hamburger verfügen mit Marcin Lijewski und Oscar Carlén zwar über zwei der weltbesten Halbrechten, aber beide fallen nach schweren Verletzungen noch lange aus. Besonders tragisch ist der Ausfall des 23-jährigen Schweden, der sich fast schon wieder an die Mannschaft herangekämpft hatte. Beim Aufbautraining riss vergangene Woche zum zweiten Mal das Kreuzband im rechten Knie – das Saison-Aus.

Dies ist doppelt bitter für die ambitionierten Hamburger. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die Verpflichtung des „Jahrhundert-Talents“ Oscar Carlén sei der wahre Grund dafür gewesen, seinen Vater Per zum neuen HSV-Trainer zu machen, da beide nur im Doppelpack aus Flensburg loszueisen gewesen wären. Das ist sicher überspitzt und ungerecht. Wahr ist aber, dass die Hamburger den Wechsel von Erfolgstrainer Martin Schwalb zum Trainertalent Carlén bisher schwer verkraften. Mit zwei Niederlagen liegt der Titelverteidiger schon vier Punkte hinter dem THW Kiel. Und auch die wenig homogene Spielweise zeigt, dass Mannschaft und Trainer noch im Findungsprozess stecken. Für Per Carlén lebt es sich nicht einfach im langen Schatten von Martin Schwalb – mit jeder Niederlage wird der Ruf nach Rückkehr des jetzigen Präsidenten auf die Trainerbank lauter werden.

Zuletzt konnte Carlén seine Positionen mit zwei Siegen in der Bundesliga und dem Auftakterfolg in der Champions League gegen St. Petersburg (32:20) wieder leicht festigen. Bei letzterem erzielte auch Renato Vugrinec seine ersten drei Tore in der Arena. Heute beim Auswärtsspiel gegen den Bergischen HC kann der 193-fache Nationalspieler erneut beweisen, dass er mehr als eine Notlösung ist. RALF LORENZEN