Sittenverfall at it’s best beim Musikfest

Mit Strawinskis „The Rake’s Progress“ ermöglicht das Musikfest eine phantastische Kooperation

Ein unbestreitbarer struktureller Vorteil des Musikfestes liegt in der Möglichkeit, Neues zu erproben: Erstmals trafen sich jetzt die Deutsche Kammerphilharmonie, SolistInnen und Chor des Bremer Theaters sowie Studierende der – ihrerseits hochschulübergreifenden – „Digitalen Medien“ zu einem gemeinsamen Projekt: „The Rake’s Progress“ von Igor Strawinski. Fantastisch.

Man kann sich freilich fragen, warum drei der wichtigsten Bremer Kulturakteure ein international angelegtes Festival brauchen, um vor Ort produktiv zueinander zu finden. Die Antworten sind banal: „Hausorchester“ am Goetheplatz ist nun mal das frühere „Staatsorchester“. Zum anderen muss man halt miteinander können. Das scheint zwischen dem neuen Intendanten und der Orchester-Geschäftsführung endlich der Fall zu sein.

Schon beim letztjährigen Musikfest beteiligte sich Hans-Joachim Frey, noch von Dresden aus, an der im „Pier 2“ von der Kammerphilharmonie aufgeführten Oper „Powder her face“. Jetzt übernimmt Frey das zeitgenössische Werk in seine erste Spielzeit. Mit Strawinski beweisen die neuen Kooperateure ein noch glücklicheres Händchen: „The Rake’s Progress“, also der „Werdegang eines Wüstlings“, ist ein musikalisch ebenso intelligentes wir inhaltlich amüsantes Werk – eine ironisierende Parabel auf die Unaufhaltsamkeit des moralischen Verfalls.

Mit William Shimell als sarkastischem Versucher und Benjamin Bruns als Verführtem sind Idealbesetzungen zu erleben – weswegen man nicht einmal die szenische Umsetzung vermisst. Und der junge Dirigent Stefan Solyom produziert stellenweise sogar so etwas wie einen „Swinging Strawinski“ – um dann ebenso deutlich den trocken-ironischen Tonfall des Russen zu akzentuieren.

Strawinskis Oper basiert selbst auf einem Kupferstich-Zyklus und hat ihrerseits zum Malen inspiriert. Nun sind lauter Hockneys oder Immendorffs im Kopf bestimmt kein Spaß, wenn man selbst nach Bildern für eine „multimediale Präsentation“ sucht – das war die Aufgabe von HfK und Hochschule Bremen. Sie haben eine schlichte Lösung gefunden – die etwas leistet, was Theater gar nicht kann: Extreme Nahaufnahmen, meist als Gesichtsstudien der Protagonisten. Will man diesen „Wüstling“ als eine Art vorgezogene Spielzeiteröffnung werten, ist einiges zu erwarten. Henning Bleyl