Vor dem Gefühl kommt der Körper

„Medea“ von Sasha Waltz an der Staatsoper: keine Oper, sondern ein Körpertheater, das auf die Musik von Pascal Dusapin gut verzichten könnte

Mit zwei neuen Interpretationen antiker Frauenfiguren macht die Staatsoper ihren Anspruch geltend, ein wegweisender Ort des gegenwärtigen Musiktheaters zu sein. Nach der Uraufführung von Hans Werner Henzes „Phädra“ nun „Medea“, eine Koproduktion mit Sasha Waltz und dem Grand Theatre de Luxembourg, die dort im Mai Premiere hatte. Beide verstehen die griechische Mythologie erneut als Modell gegenwärtiger Krisen – der individuellen Person bei Henze, der gesellschaftlichen Gewalt bei Waltz – und beide können das nur, indem sie die Form der Oper selbst aufbrechen und neu definieren.

Das ist lobenswert mutig, wirft aber dennoch die Frage auf, ob der Raum der Staatsoper wirklich der beste ist, der sich in Berlin für solche Schritte zu neuen Horizonten finden lässt. Einigermaßen gewaltsam hatte ihn der Lichtinstallateur Olafur Eliasson für Henzes Phädra in eine in sich selbst gespiegelte High-Tech-Disko verwandelt, in der die kammermusikalisch sublimierte Lyrik des Werkes einen unnötig schweren Stand hatte. Sasha Waltz nun führt einen einsamen Kampf gegen die Architektur gewordene Konvention des genießerischen Blicks von den Rängen auf den eng umgrenzten Guckkasten der Bühne. Es ist zwar auch so zu sehen, worum es ihr geht; aber man möchte dabei aufstehen können, um aus wechselnden Blickwinkeln zu beobachten, was auf dieser Bühne geschieht, die eigentlich keine ist. Die Körper sind es vielmehr, die allein den Raum bestimmen mit Konstellationen von Gruppen und daraus ausbrechenden Einzelfiguren, mit Gesten, Schritten. Es sind lebende Skulpturen, die weit entfernt von bloßer Pantomime die Geschichte der liebestollen Mörderin Medea nicht nacherzählen, sondern übersetzen in ihre eigene Sprache der körperlichen Bewegung.

Sie ist nicht immer leicht zu lesen, man muss ihre Grammatik lernen, aber stets entstehen packende Bilder, die oft mehrdeutig sind und eben dadurch den zur Bildungskonvention erstarrten Mythos aufbrechen und bedrohliche Fragen an uns selbst stellen. Nur vordergründig hat Sasha Waltz Pascal Dusapins Vertonung des Textes „Medeamaterial“ aus der Argonauten-Trilogie von Heiner Müller inszeniert. Ihre Choreografie geht weit über diese Deutung eines Frauenschicksals zwischen Erniedrigung und Rache hinaus, sie ist universaler, eben weil sie den Körper sprechen lässt, der allen psychologisch deutbaren Gefühlen vorausgeht. Wie von magnetischen Polen angetrieben werden seine Muskeln und Gelenke angezogen und abgestoßen von anderen Körpern, er vereinigt sich mit ihnen oder scheidet sie aus. Mehr ist nicht nötig, um das Monster der Medea ebenso körperlich fühlbar zu machen.

Ganz und gar überflüssig und zuweilen auch ärgerlich ist allerdings die Musik, die Pascal Dusapin schon 1992 geschrieben hat. Nicht für das Körpertheater der Sasha Waltz, sondern für ein Theater in Brüssel, das nach einer thematisch passenden Ergänzung für seine nicht ganz abendfüllende Inszenierung von Purcells „Dido und Äneas“ suchte. Ein Lückenbüßer also. Sparsamerweise sollte das eigens für Purcell engagierte Barock-Orchester auch für diesen Teil des Abends zum Einsatz kommen. Also klebte Dusapin eine hübsche Tapetenmusik für historische Instrumente, Chor und fünf Solosoprane über Müllers Text. An wirklich schwierigen Stellen wird nur gesprochen, den Rest spielen und singen Caroline Stein, die Akademie für Alte Musik und das Vocalconsort Berlin tadellos – und sie sind dabei massiv unterfordert. Warum dieses nervtötend seifige Stück Tonsetzerei auch ohne Sasha Waltz schon mehrfach gespielt worden ist, weiß kein Mensch. Sie hätte gewiss bessere Vorlagen verdient, seltsamerweise scheint das die Choreografin aber gar nicht zu stören.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Staatsoper Unter den Linden, wieder am 18., 20., 22., 23. September