Still und leise in die Einsamkeit

Armut hat nicht nur eine materielle Seite. Dies zeigte eine Diskussion in Marzahn. Viele Betroffene vereinsamen, werden mutlos – und manchmal psychisch krank

Viele Betroffene sind mit dem Ausfüllen der Hartz-IV-Formulare überfordert

Heike H. lebt seit vier Jahren von Sozialhilfe und später Hartz IV. „Ich bin gesund und komme mit dem Geld klar. Aber wenn ich Kinder hätte, wäre das ein Problem“, erzählt die Abiturientin. Heike H. wohnt in Marzahn-Nord, einem sozial sehr schwachen Wohngebiet. Jeder dritte Bewohner ist ein Spätaussiedler aus einem der GUS-Staaten. Doch ob Russlanddeutscher oder Einheimischer: Arm sind hier viele. Wer es sich leisten konnte, ist längst weggezogen aus diesem äußersten nordöstlichen Stadtrand Berlins. Viele Wohnungen stehen leer. Über Armut und ihre Auswirkungen diskutierten Betroffene, Bezirkspolitiker und Experten am Wochenende auf einer Veranstaltung der evangelischen Kirchengemeinde.

Heike H.s Pullover entspricht nicht der neuesten Mode. Aber die 19-Jährige spricht selbstbewusst. Das ist nicht selbstverständlich für eine Hartz-IV-Empfängerin, weiß Pfarrerin Katarina Dang. Sie musste lange nach einer Referentin suchen, die bereit war, über ihre Situation zu sprechen. Heike H. erzählt auch von ihrer Mutter, die in Folge der Armut psychisch krank wurde. „Sie sah keinen Sinn, keinen Ausweg aus ihrer Armut. Und sie war mit dem Ausfüllen der bürokratischen Anträge überfordert.“ Dadurch sei sie weiter in die Armut abgerutscht. Die Abiturientin fordert deswegen unter anderem, die Bürokratie für Sozialfälle zu entschlacken. „Damit wäre vielen Menschen geholfen.“

Für andere Betroffene ist schon eine neue Brille ein Armutsrisiko. Denn die ist im Hartz-IV-Satz nicht vorgesehen. Die Kirchengemeinde hat zahlreiche solcher Schicksale dokumentiert. Armut hat nicht nur eine materielle Seite, weiß auch die Bezirksbürgermeisterin Dag- mar Pohle (Die Linke). Sie führe zu Armut an sozialen Kontakten, zu fehlenden Möglichkeiten, an der Kultur teilzuhaben, und besonders am Stadtrand auch zu fehlender Mobilität und Isolation. In ihrem Bezirk ginge zwar die Jugendarbeitslosigkeit zurück, freut sich die Bürgermeisterin. „Aber bei Leuten über 50 haben wir nach wie vor eine sehr hohe Arbeitslosenrate.“ Weil der Bezirk keine Jobs schaffen könne, will er auf Unternehmen zugehen, um sie zum Nutzen der Erfahrungen und Potenziale älterer Menschen zu motivieren, kündigte Pohle an.

Menschen müssten in sozialen Projekten oft erst einmal wieder lernen, morgens pünktlich aufzustehen und anderen Menschen in die Augen zu schauen, so die Erfahrungen von Hartwig Neigenfind von der kirchlichen Aktion „Leib und Seele“. Manche würden ja ihre Wohnung kaum noch verlassen. Die Religion könnte solchen Menschen eine wichtige Stütze sein: „Der christliche Glauben kann viel tun, arme Menschen wieder zu aktivieren“, ist sich Neigenfind sicher.

Berlin ist bundesweit die Stadt mit dem höchsten Zuwachs an armen Menschen, sagt Gerd Buddin von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, und verweist auf eine gewerkschaftliche Studie. Dies beträfe immer stärker Menschen mit Arbeit. 1-Euro-Jobber etwa, Zeitarbeiter, Freiberufler oder „Menschen in sklavenähnlichen Beschäftigungsverhältnissen“, so der Gewerkschafter. MARINA MAI