„Ohne Belastungen gehe ich ein“

STRESS Unternehmen sind seit einem Jahr verpflichtet, nicht nur körperliche, sondern auch psychische Fehlbelastungen der Beschäftigten zu vermeiden. Die Soziologin Susanne Nickel über Wertschätzung, Messmethoden und krank machendes Betriebsklima

■ 44, die Soziologin arbeitet für die Bremer Organisationsberatung Sujet und berät etwa Unternehmen, wie sie die Arbeitsumgebung von Stuhl bis Stimmung gesundheitsgerecht gestalten können.

lNTERVIEW KATHARINA SCHIPKOWSKY

taz: Frau Nickel, psychische Belastung am Arbeitsplatz gibt es ja schon seit es Arbeitsplätze gibt. Was ist neu am Umgang damit?

Susanne Nickel: Einerseits haben sich die Arbeitsverhältnisse und damit auch die Belastungen verändert. In vielen neuen Bereichen gibt es gar keine Leistungsregulation mehr. Erfüllt man dieses Jahr ein Arbeitsziel, muss man es im nächsten Jahr übertreffen. Andererseits hat sich das Bewusstsein für Belastungen geschärft. Die Burnout-Debatte hat das Thema präsenter gemacht. Während es früher um klassische Arbeitsschutzthemen wie zum Beispiel Lärm und Staub ging, merken die ArbeitgeberInnen heute, dass psychische Fehlbelastungen auch wichtige Faktoren sind.

Was versteht man denn genau unter psychischer Fehlbelastung?

Zunächst sind alle Anforderungen, die von außen auf einen Menschen zukommen, Belastungen. Aber die können auch positiv sein. Wenn ich gar keine Belastungen habe, gehe ich ein. Aber der Rahmen muss stimmen: Viel Entscheidungsfreiheit auf der Arbeit ist nur dann gut, wenn ich auch qualifiziert bin, die Entscheidungen zu treffen, und wenn ich die nötigen Ressourcen dazu habe und die Organisation mir den Rücken stärkt. Sobald eine der Bedingungen nicht erfüllt ist, entsteht eine psychische Fehlbelastung.

Ist die immer weiter zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse auch schuld an einer höheren psychischen Fehlbelastung?

Flexibilisierung an sich ist an gar nichts schuld. Mitsprache daran zu haben, wie Prozesse ablaufen sollen, ist sehr positiv. Aber es kommt nicht nur auf das ‚Wie‘ an, sondern auch auf die Zielsetzung. Wenn eine generelle Bereitschaft besteht, die ArbeitnehmerInnen bei Zielvorgaben mitentscheiden zu lassen, und auch eine Veränderungsbereitschaft für Organisationsstrukturen besteht, dann ist das gut.

Das Arbeitsrecht wurde 2013 präzisiert: In der Regelung zu Sicherheit am Arbeitsplatz ist psychische Belastung nun explizit als zu bedenkender Faktor aufgeführt. Aber wie sollen die Unternehmen die erfassen? Da kommen Sie ins Spiel.

Genau. Wir unterstützen die Arbeitgeber dabei, in einer sogenannten Gefährdungsbeurteilung neben den klassischen Arbeitsschutzthemen auch die psychischen Gesundheitsgefährdungen für ihre Beschäftigten zu erkennen. Dazu gucken wir erst mal, welche Belastungen es auszuhalten gibt. Wir sammeln die subjektiven Eindrücke der Beschäftigten, die meistens klare Hinweise darauf enthalten, wo die Belastungssituation nicht stimmig ist.

Wo hakt es denn meistens?

Man kann vier Ebenen unterscheiden, auf denen eine Schieflage bestehen kann. Erstens muss die Aufgabe stimmen, das heißt, die Anforderungen müssen der Qualifikation entsprechen. Oder wenn jemand beispielsweise im sozialen Bereich viele harte Geschichten von den KlientInnen hört, dabei seine eigenen Gefühle zurückstellen und nur für die KlientInnen da sein muss und permanent Empathie produzieren muss, dann ist das emotional sehr belastend. Zweitens muss die Umgebung stimmen, also die klassischen Faktoren wie der Lärmpegel und die Lichtverhältnisse. Drittens die Arbeitsorganisation: Die Wege dürfen nicht zu lang sein, die Zeit muss ausreichen, Abläufe müssen stimmig sein. Und viertens: die sozialen Beziehungen. Also ein gutes Betriebsklima, gute Führungskultur. Oder auch eine gute Fehlerkultur: Habe ich das Gefühl, jemand lauert nur, dass ich einen Fehler mache? Oder sind Fehler auch zum Lernen da?

Aber ist die Belastungsschwelle nicht viel zu individuell, als dass man von allgemeinen Umständen auf die psychische Belastung Einzelner schließen könnte?

Ja, das ist individuell sehr verschieden. Aber wir gucken ja gar nicht, was die einzelne Person aushält, sondern welche Belastungen es gibt und wie man sie verringern kann. Die ExpertInnen sind immer die Arbeitenden selbst. Als ArbeitgeberIn muss ich also ganz simpel meine MitarbeiterInnen fragen. Dafür gibt es diverse Methoden. Ich arbeite mit einem Mix aus Fragebögen und Workshops, um rauszufinden, wie die Arbeitenden die Belastung wahrnehmen. Man fragt immer weiter: Was ist an den Umständen belastend? Was heißt Belastung in dem konkreten Fall? Welche kleinen Faktoren addieren sich?

Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine belastende Situation am Arbeitsplatz?

In einem Betrieb haben die MitarbeiterInnen sich über einen Abteilungsleiter beklagt, der schlecht mit ihnen umging. Auf Nachfragen schilderten sie, dass der Vorgesetzte häufig unfreundlich und gestresst auftauchte, Anweisungen änderte und alle ihre Abläufe durcheinanderbrachte. Dahinter lag ein ganzes Ursachenknäuel: Der Vorgesetzte war häufig mit geänderten Kundenwünschen und deren Zeitdruck konfrontiert, im Unternehmen waren aber nur die Standardprozesse definiert und für davon abweichende Situationen waren weder Zeit noch Handlungsmuster eingeplant. Außerdem hatte der Vorgesetzte einen wenig wertschätzenden Führungsstil und war selbst überlastet. Die Beschäftigten der Abteilung wurden nicht als ExpertInnen ihrer Arbeitsabläufe gesehen und in die Lösung der brenzligen Situation einbezogen, sondern als BefehlsempfängerInnen behandelt.

Und was macht man dann?

In so einem Fall ist es wichtig, dass man ein abgestimmtes Vorgehen entwickelt, bei dem die Beschäftigten miteinbezogen werden. Das schafft Akzeptanz und verbessert den Ablauf. Aber auch die besonderen Belastungen der Führungskraft müssen beachtet werden. Nur wer seine eigene Gesundheit ernst nimmt, kann auch gut führen. Zu einem guten Führungsstil gehört es allerdings, nicht nur bei Problemen aufzutauchen, sondern seinen MitarbeiterInnen im ruhigeren Alltag wertschätzend und interessiert zu begegnen. Ein gutes Team kann vieles auffangen. Aber auch wenn das Betriebsklima gut ist, der Schreibtischstuhl aber schlecht, funktioniert das Ganze nicht und man kriegt eben doch Rückenschmerzen. Ein ganzheitlicher Blick ist wichtig.

Merken die Arbeitenden auch manchmal gar nicht, wie viel Stress sie eigentlich haben?

So ist es. Das gemeinsame Sprechen über Gesundheit und Krankheit in Workshops ist ein wichtiger Schlüssel. Viele Leute denken, gesund heißt einfach nur nicht krank. Aber man muss sich auch fragen, wie lange man das durchhält: Kann ich auf diesem Level gesund arbeiten, bis ich 67 bin? Und es muss im Betrieb auch gewürdigt werden, wenn jemand sagt, dass Arbeit nicht alles im Leben ist. Das Sprechen über psycho-soziale Fehlbelastungen holt das Thema Gesundheit/Krankheit aus der Ecke des individuellen Versagens und macht es zu einem gemeinsamen Anliegen im Betrieb.

Was bringt eigentlich Menschen dazu, sich selbst auszubeuten, indem sie zum Beispiel auf Pausen verzichten?

Heutzutage fragt man sich nicht mehr: Was kann ich auf Dauer leisten? Sondern eher: Was muss ich leisten, um am Markt konkurrieren zu können? Das muss sich ändern. Betriebe müssen ihren MitarbeiterInnen das Vertrauen vermitteln, dass sie nicht gleich raus sind, wenn sie mal krank sind. Außerdem müssen sie einkalkulieren, dass auch mal Leute krank oder im Urlaub sind. Die Betriebskultur muss sich dahingehend ändern, dass es okay ist, wenn die anderen MitarbeiterInnen dann nicht nach dem Motto ‚Wir wuppen das schon‘ alles auffangen.