Kaum Gebackenes zum Schneiden

VOLKSBÜHNE Rund um das Theater trafen sich die „Blutsbrüder“, jugendliche Kleinkriminelle, in den 30er Jahren. Sebastian Klink bringt sie auf die Bühne

Als Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ 2013, 80 Jahre nach seiner ersten Erscheinung, wiederentdeckt wurde, fand die Geschichte über jugendliche Kleinkriminelle aus dem Zwischenkriegsberlin viele begeisterte Leser. In Sebastian Klinks Inszenierung im 3. Stock der Volksbühne steht die packendste Szene gleich zu Beginn: Sechs Kerle in Mänteln und mit Mützen stehen aufgereiht und lassen sich mit einem Brotmesser den Unterarm traktieren, so dass daraus Blut fließen möge. Manche reichen den Arm freudig hin, andere ängstlich. Einer versucht sich im letzten Moment noch, der Prüfung zu entziehen.

Aber Bandenchef Jonny (gespielt vom frischgebackenen Ernst Busch-Absolventen Sebastian Schneider) kennt keine Gnade. Er fängt den roten Lebenssaft jedes Einzelnen in einem verbeulten Eimer auf. Aus der blechernen Soundanlage dringt denn auch das akustische Signal des Tropfens von Flüssigkeit auf festen Stoff.

Klar wird an dieser Szene nicht nur Zeit und Sujet des Abends. Die Kleidung weist punktgenau in die Zwischenkriegszeit. Der Kostümfundus von Slatan Dudows „Kuhle Wampe“ scheint geplündert. Der Aufnahmeakt der Bande macht deutlich, dass es um im Elend geborene Delinquenz gehen wird. Das fachfremd eingesetzte Brotmesser ist Hinweis darauf, dass es kaum Gebackenes zu Schneiden gibt. Und die von den Schauspielern stakkatohaft herausgebellten Wortfetzen demonstrieren bereits in diesen ersten Momenten die Entschlossenheit des gesamten Ensembles aus Busch-Absolventen und Volksbühnenpersonal, die Thematik in übersteigertem Schweinsgalopp bearbeiten zu wollen.

Sozial besorgtes Musterschülertheater

Als kleines ästhetisches Zugeständnis an die Entstehungszeit des Romans lässt Regisseur Sebastian Klink Schrifttafeln aus der Zeit des Stumm- und frühen Tonfilms einblenden. Die Volksbühnenbildsprache der abgefilmten Ereignisse trimmt er ebenfalls auf diese Ära. Doch über das Niveau eines Regiemusterschülers hinaus gerät dieses Mittel nur in jener Szene, die die atemlose Köln-Berlin-Fahrt eines der Bandenmitglieder im Unterboden des Expresszugs schildert. Da finden die äußere mechanische Rasanz und das Toben der inneren Verzweiflung zueinander.

Ansonsten fragt man sich, was dieser alte Sozialreißer über das Unterweltsberlin der Endzwanziger und frühen Dreißiger in der Volksbühne zu suchen hat. Gut, es gibt das Lokalkolorit der nicht mehr vorhandenen Kneipen rings um den alten Volksbühnenbau, die die Hauptauftrittsorte dieser Clique darstellen. Jugendliche Gewalttätigkeit ist prinzipiell an viele Diskurse anschließbar. Und weil beim Vizechef der Bande irgendwann die Hakenkreuzarmbinde auftaucht, darf man „Blutsbrüder“ sogar als historisches Vorspiel zu Frank Castorfs ausgewachsenem Nazidrama „Kaputt“ werten. Wenn es um reißerische Sprache geht, konvergieren auch die Autoren der Vorlagenbücher, Malaparte und Haffner.

Dass Klink dem Hype um den wiederentdeckten Sozialschmöker von Haffner so erlegen ist wie weite Teile des Feuilletons bei der Wiederauflage 2013, verblüfft denn aber doch. Die Caféhaus-Leser der Zwischenkriegszeit konnten sich an ganzer Meterware der Darstellung des Großstadtelends ergötzen. Siegfried Kracauer, Rezensent der Erstauflage von 1932, handelt das Buch in einer Sammelrezension mit dem Heimroman „Betrogene Jugend“ ab. Wer vom Unterweltleben der Großstadt begeistert ist, kann opulenter und differenzierter in Hans Ostwalds Gossenliteraturoeuvre von etwa 70 Bänden schmökern. Ostwald muss man nicht einmal mit publizistischen Fanfarenstößen wiederentdecken, man kann einfach in die Stadtbibliothek gehen – die als Wärmestube für Alphabeten übrigens auch im Stück auftaucht. TOM MUSTROPH

■ „Blutsbrüder“, wieder am 24./29./30. Januar in der Volksbühne