DAS SCHLOSS (1)
: Der Kackhaufen

Verfall löst in Berlin bekanntlich immer Sozialromantik aus

Wie es kam, dass ich eine Woche lang die taz nicht bekam? Ungefähr so: Wir wohnen in einem Haus in Kreuzberg, unweit des ehemaligen Mauerstreifens, also sozusagen in der Luisenstadt. Ungefähr da, wo in den achtziger Jahren politisch und sozial schwer was los war. Mittlerweile ist die Lage natürlich eine andere; es gibt keine besetzten Häuser mehr, keine Hinterhofkneipen oder -kinos. Nur das Motorradgang-Haus gibt es noch und ein kleines offenes Büro, in dem sich regelmäßig seltsam-linke Gruppen zum Plenum treffen.

Und es gibt unser Haus, ein Altbau, von außen hübsch, von innen verkommen, und das hat hauptsächlich einen Grund: Besitzer ist die WBM, und die hat dem Anschein nach so gar keine Lust, sich über ihre Pflichten hinaus um irgendetwas zu kümmern. So gab es lange eine Haustür, die einfach so offen stand; eine Klingelanlage gibt es nicht. Das Treppenhaus ist weiland einmal in scheußlichem Gelb gestrichen worden. Inzwischen ist es über und über mit Tags und Sprüchen beschmiert. Der Putz ist mit Löchern übersät. Kabel liegen offen. Alles, was zu Verfall und Sozialromantik gehört, ist vorhanden. Verfall löst in Berlin bekanntlich immer Sozialromantik aus, das ist sogar bei meinem Mitbewohner so. (Wir haben tapetenlose, nackte Wände im Wohnzimmer. Das sieht mal „charmant“, mal „alternativ“ aus, je nach Betrachtungsweise.)

Jedenfalls, eines Tages fand sich ein Kackhaufen im Treppenhaus, und der fand sich dort einige Tage lang; niemand fühlte sich verantwortlich, ich auch nicht. Jemand hat dann irgendwann eine alte Babymütze draufgelegt, bis endlich der Putzdienst kam. Es schien also ein Hund sein Unwesen zu treiben, oder ein notdurftgeplagtes Kleinkind. Dachte ich jedenfalls zuerst. In Wahrheit steckte ein Mensch dahinter, ein Mensch, der das mit der Tür herausgefunden hatte und hier vorübergehend ein Obdach fand. RENÉ HAMANN