Vielleicht harmlose Doktorspiele

Der Grat zwischen Spiel und sexuellem Übergriff ist auch unter kleinen Kindern schmal. Unklar ist allerdings die Dimension des Problems. Die Diplomsoziologin Dagmar Riedel-Breidenstein lotet das heute in Bremen aus

Das Thema klingt erschreckend. Denkt man doch beim Stichwort „Sexuelle Übergriffe“ nicht automatisch an Handlungen unter Kindern. Doch Bremens „Schattenriss e. V.“ registriert hier seit einigen Jahren eine Zunahme.

Ulla Müller vom Verein nennt 29 Fälle, die in der ersten Hälfte dieses Jahres registriert worden seien. Betroffen waren Kinder zwischen drei und 14 Jahren. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Ihre Mitstreiterin Marion Mebes ist Sozialpädagogin beim „Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen“. Sie bestätigt, dass das Problem nicht nur in Bremen thematisiert wird. Kinderbetreuungseinrichtungen bundesweit vermeldeten ein verstärktes Auftreten solcher Übergriffe.

Mebes sieht die Ursache hierfür in der zunehmenden Darstellung von Sexualität, sei es über TV, Internet oder Handybotschaften, glaubt aber, dass die meisten Kontakte harmlos sind.

Die Diplomsoziologin Dagmar Riedel-Breidenstein, die sich dem Thema heute Abend während eines Vortrags in Bremen widmet, ist sich nicht sicher, ob der Anstieg tatsächlich auf einer Zunahme der Übergriffe beruht oder auf der erhöhten Aufmerksamkeit für das Thema. Tatsache sei aber, dass es in Tagesstätten etliche Übergriffe gebe, die von der sexualisierten Beleidigung bis zur vergewaltigungsähnlichen Penetration reichten.

Die Fachwelt sieht die im Volksmund „Doktorspiele“ genannten Aktivitäten als wichtige Etappe der Persönlichkeitsentwicklung. Sie können bereits im Alter von drei bis vier Jahren beginnen. Auf einer Informationsseite des Bayrischen Landesjugendamtes etwa ist zu lesen: „Es kann vorkommen, dass Kinder einen Geschlechtsverkehr nachahmen. Sie legen sich zum Spaß aufeinander, bewegen sich, stöhnen vielleicht sogar.“ Damit imitierten sie erwachsenes Verhalten. Ältere Kinder suchten sich oft bewusst Orte aus, die nicht im Sichtbereich anderer lägen.

Wie kontrovers und tabuisiert sexuelle Aktivitäten von Kindern immer noch sind, zeigt das Beispiel des Ratgebers „Körper, Liebe, Doktorspiele“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Fachlich versierte Wissenschaftler haben an der Publikation nichts auszusetzen. Dennoch wurde sie aus dem Programm genommen, nachdem Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) einige Formulierungen „missverständlich und zweideutig“ fand.

Kinder haben noch nicht die Normen verinnerlicht, die das Handeln von Erwachsenen bestimmen. Daher brauchen sie, so Mebes, kompetente Begleitung. Denn Eltern, die wüssten, in welcher Phase sich ihr Kind gerade befinde, könnten dessen Handlungen angemessen deuten.

Woran erkennt man einen Übergriff? „Kernelemente sind Unfreiwilligkeit – oder auch scheinbare Freiwilligkeit aus Angst – und Machtausübung“, sagt Mebes. Keine Handlung dürfe unter Zwang erfolgen, sagt sie. Mebes rät Eltern daher zur Aufklärung. Sie müssten ihre Kinder fragen, ob sie sich bei ihren Spielen wohl fühlten. Eltern sollen bei der Beurteilung der kindlichen Aktivitäten „auf ihr Gefühl hören“ und ihren Kindern beibringen, die Freiheit anderer nicht zu beeinträchtigen. ROMAN RUTKOWSKI

Vortrag: heute, 19 Uhr; Workshop morgen, 9–17 Uhr, LIS Am Weidedamm 20, Bremen