Die Region fest im Blick

AUSSTELLUNG Das Museum für Photographie in Braunschweig zeigt „Das regionale Gedächtnis“: ein groß angelegtes Projekt zum Bildfundus der Region

VON BETTINA MARIA BROSOWSKY

Die Stadt Braunschweig bezeichnet sich selbst ja gern als Fotostadt. Hier war durch Friedrich Voigtländer ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein Pionierunternehmen der Apparatetechnik ansässig und mit den Rollei-Werken seit 1920 ein auch unter Profis geschätzter Hersteller von Mittelformat-Rollfilm-Kameras, etwa der zweiäugigen Rolleiflex. Leider ist von dem Renommee nichts geblieben. Beide Firmen gingen in Insolvenz, ihre Namen fungieren nur noch als Markenlizenzen: Voigtländer derzeit als Nischenprodukt in der analogen Fotografie, Rollei für Überwachungskameras, Camcorder oder Handyzubehör.

Die vielen Fotografen, die früher gerne eine Rolleiflex einsetzten, prägten zudem keine stilistische Handschrift aus, wie sie etwa manch Bildreportern durch die handliche Leica gelang. Eine gerade in Hamburg zu Ende gegangene Ausstellung ging der Wechselbeziehung zwischen apparativer Disposition und sich verändernder Bildästhetik nach, Anlass war das 100-jährige Jubiläum dieser Kamera-Legende.

Um diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Braunschweig weiß Gisela Parak, seit zwei Jahren Leiterin des Museums für Photographie. Deshalb schlägt sie mit einem groß angelegten Projekt zum Bildfundus der Region einen anderen Weg ein. Statt technikhistorischer Nostalgie spürt sie einer vitalen Fotografenszene in Niedersachsen nach, die 17 Vereinsmitglieder des Museums nun für einen ersten Ausstellungsteil mit neueren Arbeiten belegen.

Ein Webarchiv, auf steten Zuwachs angelegt, vertieft den derzeit gezeigten Ausschnitt um weitere Aufnahmen aus den Serien der Bildautoren. Hinzu kommen Archivalien, etwa von Käthe Buchler, die rund um den Ersten Weltkrieg dessen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung dokumentierte, oder vom Pressefotografen Hans Steffens. Über beider Nachlässe verfügt das Haus.

Und auch ein mittlerweile schon fast historischer Querschnitt, den eine Vorgängerin Paraks in den 1990er-Jahren sammeln konnte, ist nun in Auszügen digital inventarisiert: der Blick auf Kulturlandschaften durch 60 regionale Fotografen. Agroindustriell ausgebeutetes Terrain, Tagebaue, erschöpfte Erntehelfer oder untergehendes ländliches Kleingewerbe formen ein Sittengemälde des ruralen Nordens, von Niedersachsen bis nach Mecklenburg-Vorpommern, zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die dem Webarchiv unterlegten Kategorien Architektur/Stadt, Landschaft/Umwelt, Braunschweig sowie Kultur spiegeln diesen momentanen Bestand wider, sollen sich aber weiter verzweigen und neue Themen evozieren. Ab 2016 werden auch ortsfremde Autoren zu Beiträgen eingeladen, eine Jury soll dann nach klassischen Kriterien, so Parak, ihre Auswahl treffen, der Beritt Braunschweig dabei bewusst unscharf gehalten werden.

Und wie sehen die 17 Fotografen in der jetzt aktuellen Ausstellung ihre Region? Auffällig ist, dass der Blick aller Autoren sich auf urbane oder zivilisatorische Phänomene einschoss und deren vielfältige Problemlagen. Und anders als in den früheren Serien der Kulturlandschaften, deren Kritik am Status quo künstlerisch subtil chiffriert daherkam, wird aktuell ganz unmittelbar Stellung bezogen.

Da ist etwa Timo Hoheisel, 1980 in Wolfenbüttel geboren und derzeit Student an der HBK Braunschweig. Er näherte sich dem Atomlager Asse, seinen gespenstischen über und unterirdischen Hochsicherheitsarchitekturen. Eine ausgebreitete riesige Folienlandschaft oder auch nur ein kleiner Eimer fangen kontaminiertes Wasser auf, das in die Lagerstätte eindringt – gefährlicher Sondermüll, der unter trügerischem Waldboden anfällt. Thomas Blume, Jahrgang 1967 und fotografischer Autodidakt, assistiert mit seinem ABC der Protestzeichen: allen voran das omnipräsente gelbe Latten-A der Atomkraftgegner zwischen Wendland und Schacht Konrad bei Salzgitter.

Beklemmend auch der OP-Bunker des städtischen Klinikums Braunschweig, seinem Kreiß-Saal möchte man nicht so recht ein neugeborenes Leben anvertrauen. Andreas Gießelmann, geboren 1972 in Bad Oeynhausen und Autodidakt in der Fotografie, beging diesen monströsen baulichen Nachlass der NS-Zeit mit seinen 1.000 Schutzplätzen auf fünf Etagen.

Wer nun in den Architekturfotos von Andreas Bormann, der sich die bauliche Verflechtung von Alt und Neu vornimmt, den konzeptionellen State of the Art der Branche vermutet, wird eines Besseren belehrt. Mit dem Blick des ausgebildeten Architekten dokumentiert der 1964 in Hannover geboren Bormann auch so mach historisches Baudetail, dem moderner Dämmwahn krude zu Leibe rückt.

Ein einziges Architekturfoto steuert Birte Hennig bei. Sie fand heraus, dass Starfotografin Candida Höfer bereits aus ähnlichem Standpunkt ein Foto der Cafeteria im langen Foyer des Wolfsburger Scharoun-Theaters schoss. Nur ist bei Höfer alles perfekt aufgeräumt, während Hennig Tisch-Deko und Müllsäcke an ihrem Ort beließ, wohl dem banausenhaften Alltagsgebrauch des Ortes auf der Spur.

Es ist also ein skurriles, in Teilen bedrückendes Bild der Region, das hier vorgestellt wird. Uns geht es auch nicht um Postkartenidyllen, so Parak. Diese Initialzündung lässt somit hoffen: auch ein subversiver Auftritt der Fotografie scheint wieder zum Bild zu finden. Denn nichts ist befreiender als die Realsatire.

„Das regionale Gedächtnis – Teil1“: bis zum 22. Februar, Museum für Photographie Braunschweig; Webarchiv unter www.dasregionalegedächtnis.de