1975, ALS MAN NOCH DACHTE: WENN DIE NACHT AM TIEFSTEN IST, IST DER TAG AM NÄCHSTEN
: Rote Hoffnungen

VON THOMAS MAUCH

Manchmal will man doch schauen, was so geblieben ist. Von den Hoffnungen, den Träumen. Von früher. Es mag der Zufall gewesen sein, der dabei 1975 als Schlagzahl für den Gang durchs Wochenende vorgab.

Einigermaßen dialektisch dröhnte damals so ein Lied: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“. Erschienen ist es 1975. Mit diesem Lied starteten Ton Steine Scherben am Freitag im dichtbepackten Kesselhaus der Kulturbrauerei in eine, nun ja, erinnerungsselige Konzertnacht, auch wenn der neue Sänger der wiedervereinigten Band gar nicht erst versuchte, den Rio Reiser zu geben. Eher etwas Grönemeyerisches hatte er in seinem Gesang.

Zum Mythos der Scherben zählt nun ja auch, dass nach deren Konzerten damals in den Siebzigern einigermaßen regelmäßig immer gleich ein Haus besetzt wurde, in Berlin oder sonst wo in der alten BRD. Die Bewegungskapelle für das gute linksradikale Gewissen also. Was in dem dabei akkumulierten symbolischen Kapital ein Gewicht ergibt, das einen in der Gegenwart eigentlich nur niederdrücken kann, selbst wenn bis in die hinteren Reihen im Publikum wenigstens die Kernsätze der Band alle mitgesungen wurden, „Allein machen sie dich ein“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und „Keine Macht für niemand“. Manchmal wurden dazu die Fäuste gereckt. Eigentlich fehlte nur noch, dass jemand schrie, „Hach, so schön war die Zeit“, während da auf der Bühne halt doch nur eine Oldiekapelle stand, die (mit Lanrue an der Gitarre) als Rechtsnachfolger der Scherben gelten darf und eben die alten Kracher von Ton Steine Scherben spielte.

1975 wurde auf den Straßen Berlins auch das gesungen: „Saigon ist frei, rot ist der Mai“. Michael Sontheimer erzählte es am Samstag in der Akademie der Künste. Knapp skizzierte der Spiegel-Autor und taz-Mitgründer damit die damalige linke Weltsicht bei der Diskussionsrunde „Ideologie und Irrtum“ anlässlich einer Ausstellung mit aktuellen künstlerischen Positionen aus Kambodscha. Die aber gar nicht das Thema der Runde waren. Unterhalten wollte man sich etwas selbstreflexiver stattdessen über die deutsche Linke und die Roten Khmer, die ja auch 1975 in Kambodscha an die Macht kamen. Und dort mit ihrem Steinzeitkommunismus ein Schreckensregime errichteten, dem ein großer Teil der kambodschanischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Die Frage: Warum blieben deutsche Linke trotzdem den Roten Khmer treu verbunden in den Siebzigern?

Was dann Gerd Koenen, Autor der Abrechnung „Das rote Jahrzehnt“, auch nicht so recht erklären konnte. Der einst beim Kommunistischen Bund Westdeutschland organisierte Kaderaktivist verwies darauf, dass man damals auch so zweifelhafte Politiker wie Robert Mugabe als „Lichtgestalt“ gefeiert hätte. Dass die politische Gemengelage überhaupt mit dem Ost-West-Gegensatz und dem zwischen der Sowjetunion und China recht unübersichtlich gewesen sei. Dass man aber nichts gewusst haben konnte von den Gräueln in Kambodscha, damit wollte er sich nicht rausreden. Da half ihm Sontheimer aus, der darauf verwies, dass halt in der Linken die entsprechenden Berichte, wenn sie etwa in der Springer-Presse erschienen, immer gleich als CIA-gesteuert und deswegen als üble Propaganda gelesen wurden.

Letztlich wollte man sich wahrscheinlich einfach seinen Traum von einem weiteren Sieg gegen den internationalen Imperialismus nicht kaputt machen lassen.

„Schwankungen am Rand“ ist der Titel einer Komposition, die Helmut Lachenmann im Jahr 1975 geschrieben hat. Zerrissen, fragmentiert, sperrig geräuschhaft, Harmonien misstrauend, trotzig ungelenk und furios. Zweifelnd auch, nicht nur an den überkommenen Konventionen, und doch selbstsicher. Am Sonntag war das Werk zum Abschluss des Ultraschall-Festivals für Neue Musik im Radialsystem zu hören. Ein begeistertes Publikum dankte dem anwesenden Komponisten, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, mit trampelndem Applaus.