Menschen sterben nicht

AUSCHWITZ Im Verhalten überlebender Kinder spiegelte sich die Realität der Vernichtungslager. „Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“ heißt die aktuelle Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Kolas Augen waren von Eiter verklebt. Er hatte Bisswunden von den Hunden der SS

VON ULRICH GUTMAIR

Es ist still und kalt im Hof des Bendlerblocks am Freitagmorgen. Eine Treppe geht es hoch zur Sonderausstellung über die Kinder von Auschwitz, die eben eröffnet wurde. An der Stirnseite des größeren der beiden Ausstellungsräume ist groß ein Schwarz-Weiß-Foto aufgezogen. Es zeigt einen kleinen Jungen, vielleicht drei Jahre alt, mit einem viel zu großen Sonnenschirm. Ein glückliches Kind, wie es scheint. Gut genährt, es strahlt übers ganze Gesicht. Hinge das Foto nicht in dieser Ausstellung, man würde nicht vermuten, dass Kola das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt hat. Kolas Geschichte ist auf zwei Bannern auf Deutsch und Englisch nachzulesen. Ein weiteres Foto zeigt den erwachsenen Kola mit seiner Tochter auf dem Schoß.

Zwei Räume voller Bilder und noch mehr Text. Sobald man sich mit einer der vielen Geschichten beschäftigt, möchte man noch mehr erfahren. Nur das Nötigste können die von Ausstellungsmacher Karl Lehmann zusammengestellten Informationen auf den Bannern über die Lebensgeschichten der Menschen erzählen, die als Kinder und Jugendliche in die Lager verschleppt oder dort geboren wurden.

Recherchiert hat all diese Geschichten über Jahrzehnte hinweg Alwin Meyer. Dieser Tage erscheint bei Steidl sein Buch „Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“. Darin erzählt Meyer von der untergegangenen Welt des europäischen Judentums. „Vor der Nazizeit gab es kaum eine kleinere oder größere Stadt in Europa, in der keine jüdischen Kinder, Frauen und Männer lebten. Oft seit mehreren hundert Jahren, in einigen Städten und Gegenden seit über tausend Jahren“, schreibt Meyer. Vor allem aber handelt sein Buch von der schwer vorstellbaren Realität des Vernichtungslagers, die auch nach der Befreiung noch die Träume und den Alltag der Überlebenden bestimmte.

Mithilfe von Zahlen lassen sich nur die Struktur und das Ausmaß des Verbrechens beschreiben: Mindestens 232.000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche im Alter von ein bis 17 Jahren wurden nach Auschwitz verschleppt. Im Zeitraum vom 1. Dezember 1944 bis zum 15. Januar 1945 wurden 99.922 Stücke Kinderkleidung ins Deutsche Reich versandt. Als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite, lebten im Lager noch 234 Jungen und Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren. 416 Kinder waren dreizehn Jahre oder jünger, unter ihnen Neugeborene und kleine Kinder. Im Lager galt die Regel, dass Kinder bei der Selektion zur Vergasung aussortiert wurden. Wenn Frauen während der Selektion Kinder auf dem Arm hatten, wurden beide vergast. Gebaren jüdische Frauen im Lager, wurden die Kinder durch das medizinische Personal mit Spritzen getötet.

Mitte Januar 1945 verließ der letzte Häftlingstransport Auschwitz. In der Umgebung wurde bekannt, dass im Lager Kinder ohne ihre Eltern zurückgeblieben waren. Emilia und Adam Klimczyk, die gut zehn Kilometer entfernt lebten, hörten davon. Weil sie kinderlos waren, beschlossen sie, eines der Kinder aufzunehmen. Am 24. Januar schlichen sich die Klimczyks ins Lager, nur knapp entgingen sie einer SS-Patrouille.

Polnische Frauen zeigten den Klimczyks ein Kind, das dringend Fürsorge brauchte. „Kola“ wurde der Junge genannt, niemand wusste, woher er kam, wie alt er war und wie sein Nachname war. Kola war verlaust, die Füße vom Frost angegriffen, der Bauch geschwollen. Der Junge, der damals zweieinhalb Jahre war, wie sich später herausstellte, hatte Bisswunden von den Hunden der SS. Sein Körper war von Geschwüren bedeckt, seine Augen von Eiter verklebt, er musste wegen Tuberkulose behandelt werden.

Die Häftlingsnummer war Kola wie bei den Erwachsenen auf den linken Unterarm tätowiert worden. Die Klimczyks mussten Acht geben, dass deutsche Soldaten und SS-Leute, die sich auf dem Rückzug befanden, die Nummer nicht zu sehen bekamen. Wenn Kola bemerkte, dass Deutsche auf der Straße oder im Haus waren, fing er an zu schreien: „Wir müssen fliehen, sonst werden wir erschossen!“

Essen bezeichnete Kola mit russischen Worten, er roch daran, bevor er aß. Beim Spielen gab er auf Deutsch Befehle. Gefühle drückte er auf Russisch und Polnisch aus. Das Kind hatte große Angst vor Ratten und Traktoren. Beim Anblick eines Uniformierten verlangte er, seine Adoptivmutter solle ihm ein Gewehr und einen Säbel kaufen: „Ich will diesen Uniformierten totschießen und zerschneiden.“ Als Emilia Klimczyk ihm erklärte, dass niemand Menschen töten dürfe, sah Kola sie erstaunt an. „Erwachsene waren für ihn wie Kinder, die keine Ahnung vom Leben hatten“, schreibt Alwin Meyer. Im Verhalten des Kindes spiegelte sich der Lageralltag. Als ein Verwandter gestorben war, nahmen ihn die Klimczyks mit, als sie die Familie des Toten besuchten. Kola suchte an dessen Körper nach Blutspuren, blauen Flecken und Wunden, die den Tod erklären würden.

Am Montagmorgen meldet der Deutschlandfunk, dass Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, vorschlägt, alle Schüler ab der neunten Klasse sollten eine KZ-Gedenkstätte besuchen. Es würde vielleicht reichen, ihnen die Geschichten der Kinder von Auschwitz zu erzählen.

■ Bis 29. März in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Alwin Meyers Buch erscheint am kommenden Montag. Steidl Verlag, Göttingen. 592 Seiten, 38,80 Euro