SCHRECKEN DER GEOMETRIE
: Viel Verantwortung

Also tue ich weiter so, als wäre ich der Lösung sehr nah

Ich bin ratlos. Mein kleiner Bruder wird jetzt von einer Hauslehrerin unterrichtet. Vielleicht gar kein schlechter Gedanke, wenn man sich das Schulsystem und die Lernmethoden betrachtet. Früher war alles besser und so, weiß man ja. „Rohrstock“ ist das Stichwort.

Allerdings war meine erster Gedanke, ob man denn auch sitzen bleiben könnte bei der Hauslehrerin. Kann man theoretisch schon, praktisch aber nicht. Ich persönlich bin sitzen geblieben. Nicht ganz so wie Rosa Parks, aber irgendwie ähnlich. Zumindest habe ich mich den meisten Lehrern und Fächern in der Schulzeit komplett verweigert. Lediglich ein paar Favoriten bekamen meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Ansonsten lebte ich nach dem Motto „If you try and don’t succeed, cheat. Repeat until caught. Then lie.“ Mein kleiner Bruder allerdings braucht jetzt meine Hilfe, die Hauslehrerin ist nämlich gerade nicht da, und da will man nicht dumm dastehen als großer Bruder und Held. Also tue ich weiter so, als wäre ich der Lösung sehr nah. Zu allem Überfluss handelt es sich auch noch um Geometrie. Ratlos schaue ich auf das Blatt Papier.

Mein Schulmotto kann ich hier kaum anwenden, und auch mein derzeitiger Leitspruch „Alles nichts, kann muss“ sorgt bei meinem zehnjährigen Bruder nur für Kopfschütteln. Ich schlage ihm vor, die Lösung zu googeln, immerhin hat er zum Geburtstag ein iPad bekommen, was bei unserem mittleren Bruder für Entsetzen sorgte.

Fragend schaute er mich über die Geburtstagstorte hinweg an und sein Blick verriet, was er dachte: Wir haben Märchenbücher und Wollpullis bekommen in seinem Alter. Aber wie schon Spiderman sagte: Mit viel Macht kommt auch viel Verantwortung. Zusammengefasst könnte das bedeuten: Wer mit zehn Jahren bereits ein iPad besitzt, hat das Recht auf Fragen verwirkt.

JURI STERNBURG