Das Ende der Solidarität

Zwei Bremer Betriebsräte haben die Geschichte der Zwangsarbeit auf „ihrer“ Stahlhütte erforscht. Statt mit den Verschleppten identifizierten sich die Bremer Arbeiter mit den Erfolgs-Kennziffern

Aus Bremen Klaus Wolschner

Zwangsarbeit in ganz gewöhnlichen deutschen Betrieben, das war in den Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders kein Thema. Dass in den 50er Jahren der Betriebsrat der Bremer Stahlwerke einmal über die ausländischen Kollegen geredet hätte, die in den Jahren bis 1945 neben den deutschen Arbeitern schuften mussten, davon ist nichts dokumentiert.

„Naziherrschaft – das war für uns mit Auschwitz verbunden“, sagt der frühere Betriebsrat der Bremer Stahlwerke, Eike Hemmer. Der Betrieb war „links“, die Belegschaft kämpferisch und bei jedem ersten Mai vorne dabei. Übrigens auch beim erfolgreichen Kampf gegen die Straßenbahnpreiserhöhungen in Bremen, 1967: Als die Klöckner-Belegschaft in die Innenstadt marschierte, um den Schülern zu helfen, knickte der Senat ein.

Der „normale“ Faschismus

Und dann erfuhren einige jüngere politisch engagierte Stahlarbeiter, dass es auf „ihrem“ Hüttengelände in der Nazizeit ein Außenlager des berüchtigten Arbeitserziehungslagers Farge gegeben hat. Und jede Menge Wohnbaracken für Zwangsarbeiter. Und im ganzen Stadtteil verstreut Unterkünfte, in denen Kriegsgefangene, Ostarbeiter, KZ-Arbeiter untergebracht waren, die auf „ihrer“ Hütte zur Arbeit gezwungen worden waren. „Das hat uns erschüttert“, bekennt Eike Hemmer: „Alle mussten das gesehen haben, wenn die Kolonnen durch Bremen zur Arbeit zogen – niemand hat davon geredet in der Nachkriegszeit.“ Eben „der ganz normale Faschismus der Zeit unserer Eltern“. Hemmer ist Jahrgang 1937, sein Kollege Robert Milbradt Jahrgang 1944. „Wir sind doch Produkte von Gefechtspausen“, sagt Milbradt. Etwas bitter, etwas ironisch.

1982 gründeten eine Handvoll jüngerer Klöckner-Arbeiter eine Geschichtsgruppe, befragten ältere Kollegen nach ihren Erinnerungen, suchten nach Material über die dunklen Jahre ihrer Hütte. Sie wollten eine Gedenktafel für die Zwangsarbeiter des Werks errichten. Auf dem Hüttengelände. Die damalige Klöckner-Werksleitung hatte nichts dagegen – solange nicht der Name Klöckner damit in Verbindung gebracht wurde. Die „Norddeutsche Hütte“ gehörte in der Nazizeit zu dem riesigen Krupp-Rüstungsimperium, das allein im Bremer Raum 46.000 Mann für den Krieg schuften ließ.

Was die Betriebsräte damals nicht erfuhren: Es existierte eine regelrechte Fremdarbeiter-Kartei, in der jeder seine ordentliche Karte hatte, der in der Kriegszeit als „Ausländer“ auf der Hütte zur Arbeit eingesetzt war. Als der belgische Suchdienst 1950 beim Präsidenten des Bremer Arbeitsamtes nachfragt, ob irgendwelche Informationen über belgische Zwangsarbeiter vorlägen, antwortete der ohne Nachfrage bei den Betrieben, alles sei verbrannt und „restlos vernichtet“.

Das war gelogen. Die Angestellten der Klöckner-Hütte konnten aus ihrer Kartei anstandslos Einzelanfragen beantworten, wenn etwa belgische Zwangsarbeiter für den Rentenantrag bestätigt bekommen wollten, wie viele Tage sie damals in Bremen gearbeitet hatten. Aber laut sprach darüber niemand.

Kontakt nach Frankreich

1984 wurde die Gedenktafel eingeweiht, französische Kriegsgefangene, die auf der Hütte gearbeitet hatten, kamen dazu nach Bremen. Zu einzelnen Überlebenden der Zwangsarbeit hielt der Klöckner-Betriebsrat guten Kontakt. Über das Ausmaß des Unrechts hatte er dennoch keine Vorstellungen. Bis dann 1998 jemand von den Angestellten der Hütte sagte: „Da sind noch vier Kartons.“ Die vollständige Kartei der Zwangsarbeiter. „Damals haben wir gesagt: ,Da müssen wir nochmal ran‘“, berichtet Robert Milbradt, der damals Betriebsrat im Werk war. Es hatte in der Nazizeit rund 50 NSDAP-Mitglieder auf der Hütte gegeben, 12 fanatische darunter. Von den Arbeitern der rund 1400 Klöckner-Beschäftigten waren 1944 fast 60 Prozent Zwangsarbeiter.

Wie kann so ein Herrschaftssystem funktionieren? Hatte es kein Klassenbewusstsein mehr gegeben auf der Hütte, die in den 20er Jahren eine kämpferische Tradition entwickelt hatte und in der Nachkriegszeit meinte, bruchlos daran angeknüpft zu haben? „Wir haben keinen Bericht von Widerstand gefunden“, sagt Hemmer trocken. „Keine Spuren internationaler Klassensolidarität“. Eine bittere Erkenntnis.

Keine Solidarität

„Warum nicht?“ – diese Frage beschäftigte die beiden. In jahrelanger Arbeit sammelten sie alle verfügbaren Informationen über ihre Hütte in der Nazizeit, ab 1998 waren auch die Entnazifizierungsakten frei zugänglich. Ihre Ergebnisse sind jetzt als Buch erschienen unter dem Titel „Bei ‚Bummeln‘ droht Gestapo-Haft – Zwangsarbeit auf der Norddeutschen Hütte während der NS-Herrschaft“.

Die deutschen Arbeiter zeigten durchaus menschliches Mitgefühl, fassen Hemmer und Milbradt ihren Eindruck zusammen, aber die Verweigerung des Hitlergrußes war das Maximum des Widerstandes. Da die deutschen Arbeiter gegenüber den ausländischen Kräften, die oft wechselten, immer mehr in die Rolle der Anlerner und Vorgesetzten kamen, hätten sie sich stärker mit den Erfolgs-Kennziffern des Betriebes identifiziert als mit den Klassenbrüdern. Und wenn ein Zwangsarbeiter – sei es auch nur aus Unterernährung – zu spät zum Schichtwechsel kam, musste der Deutsche dafür länger bleiben. Die Bestrafung von „Bummelanten“ sei daher durchaus im Interesse der deutschen Arbeiter gewesen.

Vor allem aber gab es ein ausgeklügeltes Repressions-System, mit dem im Grunde täglich vorgeführt wurde, wie es dem erging, der sich querstellte. Auf den Karteikarten wurde das minutiös dokumentiert. „Nur mit Tinte ausfüllen! Radieren nicht statthaft“ steht oben vorgedruckt auf allen Karten, da war nichts wiedergutzumachen. So steht auf der Karte des „Gefolgschaftsmanns“ Carollo mit der Nummer 3470, er habe fristlos und „ordnungsgemäß gekündigt“, letzte Schicht am 24. 8. 1944, er erhielt – mit Unterschrift des Meisters zwei Tage später quittiert – seine Papiere. Und dann steht da: „Grund: Versetzung ins Straflager“. Genauer ist nicht vermerkt, was passiert ist.

Für jeden eine Karteikarte

Die Autoren beschreiben sehr differenziert die Situation der ausländischen Arbeiter, die je nach Nationalität sehr unterschiedlich war. Die ersten waren angeworben worden und kamen halbwegs freiwillig mit befristeten Verträgen. Aus der Ukraine kamen Männer, die dort keine Arbeit hatten und glaubten, Hitler habe sie von der Sowjetmacht befreit, um eine unabhängige Ukraine zuzulassen. Ab 1939 kamen Polen, Tschechen, Holländer und Franzosen. Und ab 1942 die „Ostarbeiter“ die Hütte, die am tiefsten in der deutschen Hierarchie der Zwangsarbeiter standen. Jeder erhielt eine ordentliche Karteikarte.

Alexij Ponomarjow ist einer derjenigen, die mit den Massentransporten aus der Sowjetunion kamen, als Junge schlicht vom Feld weggeschnappt. Er gehört zu denjenigen, die 1999 auf Einladung der Geschichtsgruppe zu Besuch noch einmal nach Bremen kamen und vom System der Zwangsarbeit berichteten. Für die Ostarbeiter waren die Baracken einfacher, die Verpflegung schlechter, die Auflagen strikter. Kontakt zu Deutschen außerhalb des Betriebes war streng verboten. Doch während der Arbeit scheinen alle gleich gewesen zu sein – bis auf die Tatsache, dass die einen noch mehr hungerten als die anderen.

Aus der ordentlichen Aktenführung der Hütte ist ein Aushang vom 4. April 1945 erhalten, in dem Strafen für den Diebstahl von Nahrungsmitteln aufgelistet sind: Peretto – Kartoffeln, Marotti – Feuerholz, Abremanko – Steckrüben und Kartoffeln. Schon Geldstrafen trafen die Zwangsarbeiter empfindlich – denn sie mussten, da sie keine Lebensmittelmarken bekamen, von ihrem kargen Lohn zusätzliche Lebensmittel für Geld erwerben.

Erfolglose Fluchtversuche

Doch die Geldstrafen bildeten erst die untere Stufe des Repressionsapparates. „Arbeitsbummelei“ konnte mit Gefängnis bestraft werden, mit „Arbeitserziehungslager“ oder mit der Überstellung ins KZ Neuengamme. Bis zu 200 solcher Maßnahmen scheint es im Jahr gegeben zu haben – rund jeder dritte Zwangsarbeiter scheint von dieser Behandlung betroffen gewesen zu sein. Nach den Eintragungen auf den Karteikarten muss man davon ausgehen, dass jeder Vierte der Zwangsarbeiter einmal versucht hat, zu fliehen.

Meist ohne Erfolg. In den letzten Kriegsjahren kamen auch aus dem Arbeitserziehungslager schwer misshandelte und unterernährte Gestalten zurück, die erst im Lazarett wieder zur Arbeitsfähigkeit aufgepäppelt werden mussten. Da arbeitsunfähige Rückkehrer aus dem Arbeitserziehungslager für die Hütte auch keinen Vorteil gegenüber arbeitsunwilligen Arbeitern waren, richtete die Betriebsleitung ein eigenes Arbeitserziehungslager, „Klein-Farge“, auf dem Werksgelände ein.

Wie viele Zwangsarbeiter direkt aus dem Betrieb in ein KZ ausgeliefert wurden, lässt sich den dürren Angaben der Karteikarten nicht entnehmen. Zum Beispiel heißt es über den russischen Schlosser Viktor Jazkowskij, er sei am 26.11.1942 „abgerückt“. Das war für den Betrieb so viel wie „weg“, die Verwaltung der Hütte kümmerte sich nicht weiter darum. Im KZ Neuengamme ist sein Tod am 27.1.1943 aktenkundig.

72 ausländische Frauen enthält die Kartei. In den ersten Jahren wurden schwangere Ausländerinnen in ihre Heimat abgeschoben – für manche scheint die Schwangerschaft die Hoffnung auf eine Rückfahrkarte bedeutet zu haben. Seit 1942 wurde dies untersagt. Aber die Betriebe freuten sich nicht über unproduktive Esser. Viele der Kinder dieser Zwangsarbeiterinnen starben früh an Unterernährung. Der Bremer Bürgermeister merkte einmal kritisch an, dass der „unerfreuliche Kindersegen“ bei den Polinnen „die Zahl der Esser“ steigern würde. „Außerdem aber entziehen diese Säuglinge dem deutschen Kinde nicht unbedeutende Mengen an Erstlingswäsche“. Auf dem Bremer Friedhof Osterholz sind 130 Kinder von Zwangsarbeiterinnen offiziell begraben. Das wird nur in Bruchteil der in Bremen geborenen und gestorbenen Zwangsarbeiterinnen-Kinder sein. „Ihr Schicksal ist bisher nicht erforscht“, schreiben Hemmer und Milbradt.

Angeblich nur „Mitläufer“

Was ist nach dem Ende des Nazi-Terrors mit denen passiert, die das Zwangsarbeiter-Regime auf der Hütte zu verantworten hatten? Betriebsleiter Otto Hofmann, der 1931 aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten war und 1936 als Nazi-Funktionär vom Krupp-Konzern nach Bremen geschickt worden war, wurde als „Mitläufer“ eingestuft. Vier seiner Gestapo-Gehilfen hatten Entlastendes für ihn ausgesagt. Alle anderen Nazi-Verantwortlichen der Hütte wurden ebenfalls nur als „Mitläufer“ klassifiziert. Von Misshandlungen habe man nichts gewusst, die Versorgung der ausländischen Arbeiter sei „geradezu vorbildlich“ gewesen. Es seien ihnen, erklärte einer der Gestapo-Leute der Entnazifizierungskammer, „keine Mängel oder Beschwerden vorgetragen worden“.

Eike Hemmer, Robert Milbradt: „Bei ‚Bummeln‘ droht Gestapo-Haft – Zwangsarbeit auf der Norddeutschen Hütte während der NS-Herrschaft“, Edition Temmen, 14,80 Euro. Das Buch wird am heute um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Bremen-West, Lindenhofstraße 53 vorgestellt.