WIR:HIER

Kapitel 13

Und dann sein Mund. Der zuckte leicht, genauso wie ihr Arm

Wieso wohnt deine Tante im Osten?“ Laura und Matteo stiegen die Treppen am U-Bahnhof Tierpark hoch. „Kommt ihr aus der DDR?“

Matteo schüttelte den Kopf. „Nee, die ist geschieden und auf Hartz IV.“

„Ja und?“

„Prinzesschen, du kennst dich echt gar nicht aus. Hier sind die Wohnungen billiger.“

„Kann ich doch nicht wissen.“

„Nee, solche Probleme haben deine Eltern eben nicht.“

Er zeigte zum nächsten Hochhaus. „Da isses.“

Aus der Wohnung im neunten Stock schlug ihnen heiße, abgestandene Luft entgegen. Im schmalen Flur hing ein Bild in Terrakottafarben aus dem Baumarkt, auf dem Telefontisch darunter faltete ein Engel aus Gips seine Hände. Zugezogene Vorhänge tauchten das Wohnzimmer in orangefarbenes Licht, das andere Zimmer verdunkelte ein schwarzes Rollo. Matteo schaltete den Deckenfluter an. Ein Jugend-Bett, ein mit Edding beschmierter Schreibtisch, über dem eine Reichskriegsflagge hing, in der einen Ecke ein Metallspind. Laura zog die Tür auf, im Regal lagen ein Pyjama, ein paar Unterhosen, zwei zusammengeknüllte T-Shirts.

„Auf diesem Schlafanzug sind Rennautos.“ Laura zog die Augenbrauen hoch.

Unter dem Bett stand eine rostige Metallkiste mit Griffen an den Seiten und einem klappbaren Deckel.

„Das ist es.“

Matteo öffnete die Kiste. Wehrmachtsheftchen, Koppelschlösser, ein Butterfly-Messer, Pornos mit extrem fetten Frauen, ein altes Feuerzeug, in das ein Hakenkreuz graviert war, ein gefüllter Patronengürtel und verschiedensprachige Flugblätter. Keine Pläne.

„Wahrscheinlich hast du recht und er hat nur rumgesponnen.“

Laura stand auf, sah sich im Zimmer um, ging zum Bett, hob mit spitzen Fingern und angeekeltem Gesichtsausdruck die Matratze hoch und griff nach dem Bündel Papier, das dort lag.

„Kleine Jungs verstecken wichtige Sachen immer unter der Matratze. Das müsstest du eigentlich wissen. Ist voll das Klischee, aber wie du siehst …“

Triumphierend wedelte sie mit den Unterlagen in der Luft. Man erkannte auf den ersten Blick, dass es tatsächlich alte Pläne waren. Matteo sprang auf und umarmte Laura.

Auf dem Nachhauseweg schüttelte Laura unaufhörlich mit dem Kopf und murmelte leise vor sich hin. Warum, bitte schön, hatte sie mit Matteo geschlafen? Er war doch überhaupt nicht ihr Typ. „Überhaupt nicht!“ Sie sah erschrocken auf, den Satz hatte sie mit Nachdruck und laut gesagt. Aber niemand war auf der Straße zu sehen, der sie hätte hören können. Das war so peinlich! Bei dem Gedanken, wie sie vorhin halbnackt miteinander auf dem Wohnzimmerteppich lagen, spürte sie, dass ihre Wangen brannten. Es war ohne Vorankündigung passiert. Sie saßen, über die Pläne gebeugt, auf der Wohnzimmercouch in diesem schönen orangefarbenen Morgenlicht nebeneinander, und ohne dass einer von ihnen etwas dafür getan hätte, war auf einmal eine Kleinigkeit anders. Es begann auf Lauras Arm, der bis dahin ganz normal neben Matteos Arm lag, stinkgewöhnlicher Abstand, da war nichts! Aber plötzlich fing ihre Haut an zu prickeln und lenkte sie ab. Laura blickte erstaunt zur Seite – direkt in diese grünen Matteo-Augen. Und dann sein Mund. Der zuckte leicht, genauso wie ihr Arm. Als Nächstes stieg ihr ein neuer Geruch in die Nase. Duft, von einer Stelle, die unmittelbar über seinen Lippen liegen musste, ein Geruch, der sie tief einatmen ließ und der so gut war, dass sie beim Ausatmen die Augen zumachen musste. Sie musste unbedingt mehr davon haben, es ging gar nicht anders und dann – bum!

Matteo war der dritte Junge, mit dem sie geschlafen hatte, aber der erste, in den sie nicht verliebt war. Ihr fiel ein, wie sie danach aufstand, an ihrem BH-Verschluss herumfummelte und sich auf der Stelle ungeschickt und linkisch vorkam. Das allerdings kannte sie, so war es bisher jedes Mal. Kaum war es vorbei, wich der entspannte Zustand idiotischen Sorgen. Ob sie wohl gut im Bett war? Ob dieses angenehme Gefühl, das sie beim Sex hatte, das war, was man dabei fühlen soll? Oder müsste da viel mehr sein? Sie war nicht ohnmächtig vor Lust geworden, sie konnte die ganze Zeit noch durchaus vernünftig denken. Hätte sie sich doller bewegen müssen? Wilder zucken? Und – das fiel ihr erst ein, als sie schon fast zu Hause war – hatte Matteo etwa ihre hässlichen Oberschenkel gesehen? Oh mein Gott!

Und jetzt? Wie sollte das nun weitergehen? Am besten, sie tut beim nächsten Treffen so, als ob alles okay wäre, als ob es das Normalste auf der Welt sei, mal eben miteinander zu schlafen. War es aber nicht.

In der Wohnung angekommen, warf sie Tasche, Zelt und Schlafsack in die Ecke, lief ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sie wickelte ein Handtuch als Turban um die nassen Haare, ein anderes um ihren Körper. Sie war todmüde, als es an der Badezimmertür klopfte.

„Laura, kommst du bitte mal!“

Am Esstisch saßen ihre Eltern nebeneinander. Kein gutes Zeichen.

„Hast du uns was zu sagen?“ Ihr Vater hatte sein Elterngesicht angezogen. Na klar, Papa, ich hatte gerade tollen, aber komischen Sex mit einem Jungen, ohne in ihn verliebt zu sein. In einer fremden Hochhauswohnung. Im Osten. Außerdem haben wir von einem Nazi, der wegen Waffen im Knast sitzt, Tunnelpläne vom Anhalter Bahnhof geklaut, weil ich eine bescheuerte Mutprobe machen soll. Gestern habe ich zu viel Wodka getrunken und gekifft. Aber sonst war nichts.

„Nö. Warum?“

„Stankowskis haben angerufen. Du warst am Freitag nicht zum Babysitten verabredet.“

Mist!

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de