„Stantastic“

TENNIS Titelverteidiger Stan Wawrinka gelangt fast unbeachtet ins Halbfinale der Australian Open

Vom ersten Spiel an wurde er mit der Frage konfrontiert, ob er sich anders fühle als im vergangenen Jahr, ob der Druck für ihn nun größer sei. Es ist ja bekanntlich schwer genug, einen großen Titel zu gewinnen, aber noch schwerer, dasselbe im Jahr danach noch mal zu tun. Aber Stan Wawrinka sieht die Sache anders. Er sei weder gekommen, um seinen Titel zu verteidigen, behauptete er nach seinem Sieg am Mittwoch gegen Kei Nishikori (6:3, 6:4, 7:6), noch, um den nächsten Titel zu gewinnen. Er sei einfach nur in Melbourne, um wieder bei einem Grand-Slam-Turnier zu spielen, alles Weitere werde man sehen. Angesichts des höchst eindrucksvollen Auftritts im Spiel gegen den Japaner müsste man ihm zurufen: Jetzt ist aber mal Schluss mit der Bescheidenheit.

Seine Form vom Mittwoch erinnerte schwer an die Form aus dem ersten Satz des Finales 2014, in dem er Rafael Nadal schwindelig gespielt hatte. Bisher war er quasi außerhalb der Radarzone des Turniers geflogen; die Niederlagen von Roger Federer und Rafael Nadal hatten Staub aufgewirbelt, aus der Sicht der Australier auch der Siegeszug von Nick Kyrgios. Bis zum Spiel gegen Nishikori, gegen er bei den US Open im vergangenen Jahr in einem dramatischen Viertelfinale verloren hatte, erledigte Wawrinka den Job auf Schweizer Art: effektiv und unauffällig, ohne viel darüber zu reden.

Dabei sehen manche Dinge schon anders aus als vor einem Jahr. Auf seinen roten T-Shirts prangt der Name „Stan the Man“, auf seinen Trinkflaschen steht „Stanimal“, auf den Plastikhüllen der frisch bespannten Schläger „Stantastic“. Was ihm davon am besten gefällt? Es gebe inzwischen viele Spitznamen, sagt er. „Stan the Man gibt es ja schon länger, aber das kommt immer wieder zurück, und irgendwie gefällt mir das auch. Aber von Zeit zu Zeit was Neues ist auch nicht schlecht.“

Warinka räumt ein, der Titelgewinn vom letzten Jahr habe ihm gezeigt, dass er an einem guten Tag jeden Gegner besiegen könne. Und Druck verspüre er nicht mehr als gewöhnlich. Er sieht das Positive und profitiert von den Erfahrungen, ohne sich mit dem Negativen und dem Ballast zu beschäftigen.

Im Spiel gegen Nishikori leistete er sich nur ein paar Momente der Nachlässigkeit. Er führte 6:1 im Tiebreak des dritten Satzes, verspielte dann aber fünf Matchbälle. Doch der Japaner schenkte ihm mit einem missglückten Stopp in dieser kniffligen Situation einen sechsten, und für diese zuvorkommende Geste bedankte sich Wawrinka mit einem Ass durch die Mitte. „Das war ein komplettes Spiel“, meinte er ohne falsche Bescheidenheit. So hätte auch Novak Djokovic den eigenen Auftritt später gegen Milos Raonic beschreiben können (7:6, 6:4, 6:2), aber der Serbe meinte, man solle sich ja nicht selbst loben. Aber da er nun offensichtlich in ebenso großartiger Form wie der Schweizer Titelverteidiger ist, der aber eher ein Herausforderer sein will, steht dem Turnier ein großer Abend bevor; Teil drei eines Krachers, der die Leute bei den ersten beiden Explosionen von den Sitzen riss.

Den ersten Teil hatte Djokovic vor zwei Jahren im Achtelfinale nach einem unvergesslichen, fünf Stunden hin- und herwogenden Spiel gewonnen, 12:10 im fünften Satz. Später gewann er den Titel, aber auch für Wawrinka hatte dieser Abend einen unbezahlbaren Wert; nach dieser Begegnung, in der er der bessere Mann gewesen war, glaubte er daran, einen großen Titel gewinnen zu können. Die Umsetzung folgte ein Jahr danach. Es ist alles bereit für den dritten Teil und für das nächste Feuerwerk.

DORIS HENKEL