uli hannemann, liebling der massen
: Der Herr des Lärms, der Godfather of Noise, dem aller Krach untertan ist

Ich glaube ja, dass mein Nachbar nicht ganz richtig im Kopf ist: Bei jedem Wetter beugt er sich aus dem Fenster und schreit stundenlang Verwünschungen in den Hof, obwohl da niemand ist: Niemand ist ein Hurensohn. Er würde die Mutter von Niemand ficken, er würde sie umbringen und Niemand dazu. Dann das Ganze da capo – warum, weiß ich nicht.

Manchmal reicht es jemand im Vorderhaus und er ruft freundlich herüber, ob denn alles in Ordnung sei? Auf diese Weise gewinnen die Flüche rasch an Tragkraft: Jemand ist nun ein Hurensohn. Er würde, so der Schreihals, von Jemand die Mutter ficken, er würde sie umbringen und Jemand dazu. In der Regel wird es spätestens jetzt dem Anderen zu bunt und er schließt lieber das Fenster.

Ich fühle mich in diesem Umfeld immer weniger wohl. Dabei hatte im Haus jahrelang Frieden geherrscht: Die Alkoholiker gaben Ruhe und tranken. Auch mit dem Paar, das sich regelmäßig kloppt, konnten alle gut leben, da es sich bei der Ausübung seiner aufreibenden Tätigkeit gewissenhaft an die Einhaltung der Ruhezeiten hielt. Ich weiß nicht, warum, aber seit kurzem werden die altbekannten Nachbarn mit ihren altbekannten, recht harmlosen Macken sukzessive durch neue Mieter ersetzt, die ausnahmslos wahnsinnig sind.

Es ist nämlich nicht nur der Schreihals. Schon vor ihm waren über mir diese Leute eingezogen, die von morgens bis abends mit schweren eisenbeschlagenen Stiefeln auf dem immer gleichen Fleck herumspringen – warum, weiß ich nicht. Für abends bis morgens suchen sie sich dann eine andere Stelle, um die Bausubstanz zu schonen und nicht den Ast abzusägen, auf dem sie hüpfen.

Und unter mir hat sich schon der nächste Kandidat einquartiert: ein junger Mann mit seinem besten Freund und ständigen Begleiter, dem Krach. Er ist der Herr des Lärms, der Godfather of Noise – alle Geräusche dieser Welt sind ihm untertan, sofern sie nur laut genug sind. Wenn er bei sich die Wohnungstür schließt, fallen bei mir die Bücher aus dem Regal. Danach öffnet er die Tür sofort wieder, um sie aufs Neue zuzuschmettern und das oft bis zu zehnmal hintereinander – warum, weiß ich nicht. Dazu die Musik.

„Böse Menschen kennen keine Lieder“, lügt der Volksmund, diese ungewaschene Dreckfresse. Ich glaube im Gegenteil, dass böse Menschen ganz besonders viele Lieder kennen, vor allem solche, die mit Kettensägen, Explosionen und startenden Düsenjets unter-, be- und überlegt sind. Darüber hinaus scheint der Krachbar einen großen Safe zu besitzen, den er auf seltsame Weise zweckentfremdet – anders kann ich mir die massiven Erschütterungen nicht erklären: Er zieht den ganzen Tag lang den Safe mit einer Seilwinde hoch, lässt ihn zügig an die Decke krachen und von dort schließlich im freien Fall wieder zu Boden sausen. Warum, weiß ich nicht.

Ich bin jetzt also völlig umzingelt: über mir die Springer, unter mir der Krachbar und neben mir der Schreihals. Der sei, so erzählte mir kürzlich sein Kumpel im Treppenhaus, „gestern aus dem Irrenhaus abgehauen, echt total krank“, und schlage „auf der Straße immer alte Menschen und so“.

Seitdem schleiche ich mich, wenn frühmorgens beim Schreihals noch Licht brennt, weil er gerade neue Drohungen gegen niemand ausarbeitet, im eigenen Haus wie ein Einbrecher die Treppen hoch – leise, um nicht bemerkt zu werden und zugleich betont behende: Falls er die Schritte wider Erwarten doch hört, sollen sie auf keinen Fall auf einen alten Menschen hindeuten. ULI HANNEMANN