: Schwarzer Sonntag in Kairo
AUSSCHREITUNGEN Die ägyptische Hauptstadt erlebt den blutigsten Tag seit der Revolution. Was aussieht wie Gewalt zwischen Christen und Muslimen, ist eher ein Kampf zwischen dem Militär und seinen Gegnern
AUS KAIRO JULIANE SCHUMACHER
Einen „schwarzen Sonntag“ nennt die ägyptische Protestbewegung den 9. Oktober. Tatsächlich war dieser Tag der blutigste seit der Revolution: mindestens 26 Tote, mindestens 400 Verletzte, Stürmung von weiteren zwei Fernsehsendern und einer Tageszeitung durchs Militär, schließlich die Wiedereinführung der nächtlichen Ausgangssperre in Kairo. Doch anders als zuweilen dargestellt, waren die Ereignisse vom Sonntag religiöse Zusammenstöße.
Am späten Sonntagnachmittag demonstrieren rund 10.000 Kopten und sie unterstützende nichtchristliche Menschen friedlich vor dem Gebäude des Staatsfernsehens in der Kairoer Innenstadt. Der von koptischen Jugendorganisationen initiierte Protestmarsch richtet sich gegen die jüngsten Angriffe auf eine Kirche im oberägyptischen Assuan und gegen die Herrschaft des Militärs. Viele Frauen und Kinder sind dabei und viele junge Aktivisten der ägyptischen Revolution. Nachdem Bilder des Armeechefs Hussein Tantawi verbrannt werden, wird die Demonstration von Polizisten und Schlägertrupps angegriffen, wie die Online-Ausgabe der staatlichen Zeitung Ahram später berichtet.
Die Kopten werfen der Armee vor, sie bei Angriffen nicht zu schützen und gezielt Gewalt zwischen Muslimen und Christen zu provozieren. Die Kopten stellen über zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung; in den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Gewalt zwischen ihnen und Muslimen.
Die koptische Kirche und ihr Papst Shenouda III. unterstützten schon die Regierung Husni Mubaraks und stehen auch der gegenwärtigen Regierung nahe. Mehrfach riefen sie dazu auf, sich nicht an den Protesten zu beteiligen. Viele jungen Kopten hingegen gehören der Revolutionsbewegung an und kritisieren die Politik des herrschenden Militärs scharf.
Videos zeigen, wie mehrere tausend Menschen einer Rednerin und einem Redner zuhören, klatschen, rufen, dann abrupt stoppen und sich umdrehen, als „Baltagiyas“, bezahlte Schläger, die Kundgebung mit Steinen angreifen. Dann knallen Schüsse, Menschen sacken zusammen, auf einmal ist überall Militär. Innerhalb weniger Minuten herrscht Chaos. Frauen kreischen in Panik, überall Gerenne, dann stürmen junge Männer vor und werfen Steine zurück. Über Stunden toben die Straßenschlachten, die sich bald auf den Tahrirplatz und die umliegenden Straßen ausweiten. Autos brennen, das Militär schießt scharf, Videos zeigen mehrfach, wie gepanzerte Militärfahrzeuge in die Menge rasen und Protestierende überfahren.
Zwischen den Protestierenden ziehen Banden von „Baltagiyas“ umher, die Augenzeugen zufolge vermeintliche Christen verprügeln. Der Blogger Hani Bushra berichtet, er habe mehrfach beobachtet, wie Offiziere der Armee die Aktionen der Baltagiyas und Schlägertrupps koordinierten und diesen Anweisungen erteilten. „Baltagiyas“ werden als paramilitärische Unterstützung in Ägypten traditionell von Politik und Sicherheitskräften eingesetzt.
Der bekannte Blogger und Aktivist Hossam Hamalawy spricht von einem „Massaker“ von Seiten des Militärs an den Protestierenden, teils wurden auch Vermutungen geäußert, dass die alte Staatspartei NDP die Zusammenstöße provoziert hat. Das Gesundheitsministerium spricht am Montag von 26 Toten; drei davon auf Seiten der Sicherheitskräfte. Offiziell wird von rund 400 Verletzten gesprochen, die Zahlen sind jedoch vermutlich weit höher. Derweil berichtet das Staatsfernsehen, die Kopten seien bewaffnet gewesen und hätten ohne Vorwarnung mit Maschinengewehren auf das Militär geschossen.
Die Jugendorganisationen, die zur Demonstration aufgerufen haben, dementieren dies. Der staatliche Sender Nil-TV, der live berichtet, greift die Kopten scharf an und ruft die Bevölkerung auf, auf die Straßen zu gehen und „ihre Armee“ zu unterstützen. Gegen 21 Uhr stürmt das Militär zwei unabhängige Fernsehsender, TV25 und al-Hurra, um die Berichterstattung über die Ereignisse zu unterbinden. Später in der Nacht kappt es der Tageszeitung al-Shourouq Internet und Strom, vermutlich, um diese am Druck von Bildern der Nacht zu hindern. Bis zum Morgen ziehen Schlägertrupps und Armeeeinheiten durch die Innenstadt. Unterstützt von aufgebrachten Anwohnern greifen sie das koptische Krankenhaus an, wohin Tote und Verletzte gebracht wurden.
Die Armee verhaftet alle, die versuchen sich zu versammeln, sich dem Tahrirplatz zu nähern. Gegen Mitternacht verkündet der herrschende Militärrat die Wiedereinführung der Ausgangssperre. Premierminister Essam Scharaf wies die Verantwortung an den Vorfällen „feindlichen Kräften aus dem Ausland“ zu, die „Chaos und Unruhe“ in Ägypten stiften wollten.
Der koptische Papst äußert sich ähnlich: Fremde Gruppen hätten sich unter die Demonstration gemischt und das Militär angegriffen. Auch die Muslimbrüder, die seit mehreren Monaten eng mit dem Militärrat kooperieren, machten ausländische Planung für die Ereignisse verantwortlich, „die die Revolution zerstören wollen“.
Die radikalislamischen Salafisten veröffentlichten am Montag eine Erklärung, dass sie mit den Ereignissen nichts zu tun hätten und keine ihrer Anhänger an den Straßenschlachten beteiligt gewesen seien.
Der Militärrat nimmt im Staatsfernsehen nur kurz Stellung, er kondoliert den Familien der Umgekommenen und fordert, die Ereignisse dürften „Militär und Volk“ nicht auseinanderbringen.